Der von mir überarbeitete Review-Eintrag zum Pilotfilm:
Folge 1, Staffel 1: "Gezeichnet / Pilot (The X-Files)"Drehbuch: Chris Carter
Regie: Robert MandelDie junge FBI-Agentin Dana Scully wird der Abteilung der X-Akten zugeteilt, die sich mit unerklärlichen Fällen befassen. Sie soll dort die Arbeit von Fox Mulder wissenschaftlich begleiten, dessen Methoden den Argwohn seiner Vorgesetzten auf sich gezogen haben. Ihr erster Fall führt die beiden Agenten nach Oregon, zur Untersuchung einer mysteriösen Mordserie an Teenagern, die alle charakteristische Male am Körper aufweisen. Mulder ist überzeugt, dass sie Opfer von Entführungen durch Außerirdische sind.
Wie bei einem Pilotfilm üblich wird der Fall hauptsächlich dazu benutzt, die Parameter für die Show zu setzen, und die Charaktere und wesentlichen Handlungsvoraussetzungen einzuführen. So werden die X-Akten und ihr Zweck benannt, und Mulder und Scully werden vorgestellt und ihre Charakterisierung in groben Zügen festgelegt: Fox "Spooky" Mulder, der brilliante aber auch kauzige FBI-Agent mit den merkwürdigen Theorien, die ihn zum Außenseiter stempelten. Dana Scully, die wissenschaftlich ausgebildete Agentin, die Skeptikerin ist und ganz auf dem Boden der Tatsachen steht. Der Fall selbst ist eine klassische X-Akte, es geht um eine Entführung durch Unbekannte, an den Opfern wurden Experimente vorgenommen.
Interessanterweise ist Scully die erste der beiden Charaktere, die uns vorgestellt wird. Oft wurde argumentiert, dass Scully die eigentliche Protagonistin ist, und nicht Mulder. Tatsächlich folgen die Zuschauer Scully, und werden zusammen mit ihr in die X-Akten eingeführt. Als Blevins ihr von ihrem neuen Job erzählt, weiß man als Zuschauer genauso wenig wie sie, und fragt sich, was für ein Typ dieser Mulder wohl ist (wenn man aufmerksam ist, fragt man sich auch, wer dieser Raucher ist, der wortlos alles beobachtend im Hintergrund steht).
Mulder wird uns, noch bevor wir ihn zu sehen bekommen, in zwiespältiger Weise vorgestellt. Einerseits lobt Scully seine Qualifikationen in den höchsten Tönen, andererseits wird beim Gespräch in Blevins Büro auch deutlich, dass er sich mit seltsamen Theorien beschäftigt und unorthodoxe Vorgehensweisen pflegt, und die Vorgesetzten wohl mit ihrer Geduld langsam am Ende sind. Sein Büro befindet sich im Keller, ohne richtige Fenster, schon der Zugang ist mit allem möglichen Gerümpel halb verstellt. Das Büro selber ist ein heilloses Chaos und hat nichts mit den aufgeräumten Tischen in den Großraumbüros oben im Gebäude gemein. Als Scully sich dort hinunter begibt, ist die Symbolik klar: Sie verlässt ihr bisheriges geordnetes Leben und steigt hinab in die Unterwelt.
Die erste Begegnung der beiden lässt dann auch vermuten, ganz so schräg hat sich Scully Mulder nach den Berichten wohl doch nicht vorstellt. Er stellt sich vor als "The FBI's most Unwanted". Im Büro selber stapeln sich unübersichtlich Akten und Utensilien, an der Wand das "I Want To Believe"-Poster (interessant, dass in der Episode die Sonnenblumenkerne auch schon da sind). Es wurde viel über Carters Umkehrung der Geschlechterrollen geschrieben und tatsächlich wird gleich in dieser Szene klar, dass es hier Mulder ist, der dem Irrationalen, Intuitiven und auch Fantastischen zugeneigt ist (was üblicherweise der rechten Gehirnhälfte und "dem Weiblichen" zugeordnet wird), während Scully die rationale, sich auf Fakten und wissenschaftliche Methoden Verlassende ist (üblicherweise der linken Gehirnhälfte und "dem Männlichen" zugeordnet). Mulder macht sie gleich darauf aufmerksam, dass bei seiner Arbeit die Königin der Wissenschaften, die Physik, selten anwendbar ist. (Interessanterweise hat Scully eine Undergraduate Thesis in Physik geschrieben - nicht alltäglich für eine Medizinerin - aber nicht in irgendeiner physikalischen Disziplin, sondern in der Quantenphysik, in der selbst diverse klassischen physikalischen Gesetzmäßigkeiten nicht zu gelten scheinen. Könnte sein, dass da für Scully schon ein Weg aus dem szientistischen Dogma bereitet wurde.)
Zu Beginn der Untersuchungen prallen die beiden Sichtweisen immer wieder aufeinander, und während Mulder etwas herablassend und konfrontierend ist, lässt Scully ihrerseits durchblicken, dass sie Mulders Theorien nicht ernst nehmen kann. Dennoch wird recht schnell klar, nämlich gleich in der zweiten Nacht im Motel, dass Scully nicht nur die toughe Wissenschaftlerin ist, der so ein läppisches Implantat nicht den Schlaf rauben kann, als sie wegen ein paar Mückenstichen regelrecht in Panik verfällt und zu Mulder rennt. Der wiederum zeigt, dass er sehr wohl eine fürsorgliche Seite an sich hat, und nimmt sich ihrer an, ohne zu versuchen, die Situation auszunutzen. Als er ihr dann von dem Verschwinden seiner Schwester erzählt, von der er glaubt, dass sie von Außerirdischen entführt wurde, ist der Grundstein für gegenseitiges Vertrauen gelegt.
Insgesamt wirkt Scully in dieser Folge noch sehr naiv, lehrbuch- und autoritätsgläubig (so übergibt sie z.B. Blevins den einzig verbleibenden Beweis), aber ihr Vertrauen in die Autoritäten wird schon durch die Vernichtung der Beweise deutlich erschüttert. Auch ihr Lehrbuch-Glaube ist nicht so fest, wie es den Anschein hat - die unerklärlichen Erlebnisse während der Arbeit an diesem Fall rütteln sie ziemlich durcheinander, und nachdem sie den Waldboden an Billy Miles Füßen entdeckt, muss Mulder sie sogar warnen, sie solle daran denken, dass sie über ihre Schlussfolgerungen einen Bericht schreiben muß. Dennoch ist Scully am Ende der Episode nicht zugegen, als Mulder im Wald das gleißende Licht sieht. Dass Scully woanders ist / zu spät kommt / bewusstlos ist, wenn irgendwas Unerklärliches passiert, ist ja beinahe schon Running Gag in den ersten Staffeln.
Gegeben, dass Scully eigentlich den X-Akten zugeteilt wurde, um Mulder zu diskreditieren, glaube ich, dass Blevins einen psychologischen Fehler machte, als Scully ihm am Ende berichtete und er sie so ein bisschen abkanzelte, weil sie keine Beweise vorbringen konnte. Damit musste sie gleich einmal ein paar Meter in Mulders Mokassins laufen und kriegte zu spüren, wie es ist, wenn man etwas zweifelsfrei gesehen hat und einem keiner glaubt. Das brachte sie gleich etwas in Oppositionshaltung und auf Mulders Seite, wie man an der etwas trotzigen Übergabe des Implantats erkennen konnte.
Im Hinblick auf die Handlung des Pilotfilms geht es um Entführungen durch Außerirdische und Opfer, an denen Experimente vorgenommen wurden, ein Kernthema der X-Akten.
Die Entführten haben Implantate, die Auswirkungen auf Krankheiten haben und die Testpersonen lenken können. Das Versagen von Elektronik und unerklärliche 9-Minuten Zeitverlust bei außerirdischen Entführungen sind bereits ein Storyelement. Es werden fast alle Beweise, die Mulder und Scully gesammelt haben, vernichtet. Den einzig verbleibenden, das Implantat, deponiert der Raucher am Ende der Episode in einem riesigen Archivraum im Pentagon. Klar ist, dass es im FBI Leute gibt, die Bescheid wissen, und auch das Verteidigungsministerium eine Rolle spielt. Die Show deutet hier schon die Existenz dunkler Machenschaften und einer großen Verschwörung an - schon zuvor hatte Mulder Scully von diesem Verdacht erzählt. Er glaubt nicht nur, dass seine Schwester von Außerirdischen entführt wurde und weiterhin Leute entführt werden, sondern auch, dass die Regierung darüber im Bilde ist. Er glaubt, dass er nur weiter arbeiten darf, weil ihn jemand im Senat protegiert.
Er sagt Scully auch, dass sie ein Teil der Agenda gegen ihn sei - was auch seine psychologische Wirkung hat, da jemand wie Scully natürlich nicht gern als ein unwissentliches Werkzeug anderer gesehen werden will.
Der Pilotfilm ist überschrieben mit "The following story is inspired by actual documented accounts". Inspiriert vor allem von der Politik der USA in der Nachkriegszeit, und den Geschehnissen in der Watergate-Affäre. Im tieferen Sinn kann diese Tagline weniger auf dokumentierte Fälle von vermeintlichen Entführungen durch Außerirdische bezogen werden, als auf dokumentierte Fälle von Regierungen oder Teile derer, die lügen, die Öffentlichkeit täuschen und eine versteckte eigene Agenda verfolgen.
Im Hinblick auf filmische Einflüsse ist neben dem offensichtlichen "Close Encounters of the Third Kind" und der Anspielung auf "Raiders of the Lost Arc" am Ende vor allem "Silence of the Lambs" zu nennen. Die Figur der Dana Scully ist nach Carters eigener Aussage durch Clarice Sterling inspiriert (nicht zufällig hat Scully rote Haare).
Der Pilotfilm leistet besonders, was die Einführung der Charaktere angeht, m.M.n. erstaunlich viel, das ist wirklich alles sehr geschickt gemacht. Die Chemie zwischen den beiden Hauptcharakteren stimmt von der ersten Szene an. Dann ist da der Raucher, gleich in der ersten FBI-Szene im Büro, und später bei der Befragung von Billy Miles anwesend. Auch die wesentlichen Handlungselemente werden gut eingeführt. Die Inszenierung tut ein Übriges, den Ton für die Serie zu setzen. Der Filmort Vancouver, mit den dunklen, feuchten Wäldern und dem notorischen Wetter, schafft eine perfekte bedrohliche Atmosphäre. Es gibt beängstigende Szenen bei Nacht und im Regen mitten im Wald und auf Friedhöfen, exhumierte Leichen und undurchsichtige Gesetzeshüter, und am Ende ist da wieder der Raucher, der den einzigen Beweis in einer riesigen Lagerhalle im Pentagon verstaut ... eben alles, was eine X-Akte ausmacht.
Insgesamt ist der Pilotfilm einer der besten seiner Art, die ich gesehen habe. Zwar ist die Geschichte jetzt nicht übermäßig spektakulär und streckenweise noch etwas behäbig, und auch die Inszenierung und die Schauspielkunst sind noch nicht auf dem Niveau der späteren Folgen. Dennoch leistet "The X Files" mit Bravour alles, was ein Pilotfilm leisten sollte. Ich gebe fünf von sechs unerklärlichen Körpermalen dafür.