Re: Akte X - Staffel 1
von nevermore » So 18. Nov 2018, 20:00
Folge 3, Staffel 1: "Das Nest / Squeeze"
Drehbuch: Glen Morgan & James Wong
Regie: Harry Longstreet
In Baltimore findet eine Reihe von seltsamen Morden statt: Alle Opfer werden in einem verschlossenen Zimmer aufgefunden, es gibt keine Zeichen gewaltsamen Eindringens, und dem Opfer wurde die Leber herausgerissen. Scully wird von einem früheren FBI-Kollegen gebeten, sich den Fall anzusehen. Sie zieht Mulder hinzu, der eine mindestens 90 Jahre zurückreichende Reihe ähnlicher Fälle in den X-Akten findet, die jeweils im Abstand von 30 Jahren stattfanden.
"Squeeze" ist die erste "Monster of the Week"-Episode und das erste Drehbuch der Masters of Darkness Morgan & Wong, die einige der besten X-Akten und Millennium-Drehbücher verfasst haben. Es spielen weder Außerirdische noch Verschwörungen eine Rolle, es ist eine klassische Horrorstory in der Tradition von Lovecraft und Poe.
Sowohl der Zuschauer als auch Mulder wissen frühzeitig, wer der Schuldige ist: Mulder entdeckt am Tatort lockere Schrauben an einem Lüftungsgitter und einen abnorm verlängerten Fingerabdruck, und entwickelt nach einer Recherche in den X-Akten die Theorie, dass der Täter ein Mutant ist, der nur alle 30 Jahre aus der Hibernation kommt und fünf Opfer ermordet, von deren Leber er sich die nächsten 30 Jahre ernährt. Natürlich glaubt Mulder niemand diese Theorie, weder der FBI-Kollege, der den Fall ursprünglich angenommen hat, noch Scully. Das Spannende der Episode ist, wie Mulder Tooms seine Taten beweisen kann und wie Tooms aufzuhalten ist.
Eugene Victor Tooms verbringt seine Tage als Tierkontrolleur in Baltimore und wirkt bei seiner täglichen Arbeit auf den ersten Blick wie eine Durchschnittsperson. Der abnorme Fingerabdruck ist Teil seiner Mutation, die es ihm erlaubt, sich durch kleinste Öffnungen wie Lüftungsgitter zu zwängen und so in verschlossene Räume einzudringen. Zwar sind für die Morde der letzten 50 Jahre stets übereinstimmende Fingerabdrücke vorhanden, doch da niemand an so eine Mutation glauben kann, nimmt das niemand ernst. Hinzu kommt, Tooms besteht den Lügendetektortest, bis auf zwei von Mulder gestellte Fragen, in denen es darum geht, ob er über 100 Jahre alt ist und ob er 1933 in Powhatan Mill, einem früheren Tatort, war. Den FBI-Beamten genügt das nicht, so dass Tooms freigelassen wird.
"Squeeze" ist eine der denkwürdigsten X-Akten-Episoden überhaupt und spielt gelungen mit den latenten Ängsten von Großstadteinwohnern, was sich wohl alles in den Kellern der vielen Gebäude und hinter den vielen Unbekannten auf den Straßen verbergen und in ihre vermeintlich abgesicherten Wohnungen eindringen könnte. Alle Opfer starben an Orten, an denen sie eigentlich sicher sein sollten - in der Wohnung oder im Büro. Tooms kann aber auch durch kleine Öffnungen kriechen - durch Lüftungsschächte, Kamine, Abwasserrohre. Er ist ein der Großstadt perfekt angepasster Mutant. Er taucht nur alle 30 Jahre auf, tötet fünf Opfer und verschwindet dann wieder. Er kann sich hinter jedem Gesicht verbergen, er kann einem in jedem engen Schacht und jeder dunklen Ecke auflauern. Hier wird mit Urängsten gespielt.
Die Episode funktioniert so gut, weil Tooms großartig geschrieben ist und Doug Hutchinson ihn großartig spielt. Tooms gibt die ganze Episode fast kein Wort von sich, selbst als er festgenommen ist, schweigt er nahezu die ganze Zeit. Mit seinem durchdringenden Blick und seiner erstarrten Haltung erinnert er an ein Raubtier, das lauert, bevor es ein Opfer angreift. Unterstützt wird der Eindruck durch eine gelungene Maske mit gelb gefärbten Kontaktlinsen und die unheimliche Musik von Mark Snow.
Die Episode lebt aber nicht nur von dem großartigen Monster Tooms, sondern auch von den personalpolitischen Verstrickungen im FBI und der Interaktion zwischen Mulder und Scully. Der FBI-Agent, der Scully um Rat fragt, ist ein alter Kollege und bringt sie mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber Mulder in eine Zwickmühle, so dass sie sich zwischen ihm (und dem restlichen FBI) und Mulder entscheiden muss. Scully bekommt in dieser Episode die Schattenseiten der Zusammenarbeit mit Mulder zu spüren, dessen merkwürdige Theorien von den anderen nicht ernst genommen werden, und der Spott der Kollegen war ihr sichtlich unangenehm. Agent Colton ist ein bornierter karrieregeiler Schnösel, dem weder an dem Fall noch an Scully etwas liegt, und der in ihr lediglich eine Art Assistentin sieht, die ihm helfen kann, auf der Karriereleiter schneller nach oben zu kommen. Spätestens bei seiner Frage "Whose side are you on?" - auf die Scully die perfekte Antwort hat: "The victim's." - wird deutlich, dass es ihm einzig und allein um sich selber geht.
Mulder wiederum macht ihr die Situation auch nicht einfacher. Als Colton ihn mit einer dummen Bemerkung über grüne Männchen begrüßt, antwortet Mulder mit einer ironischen längeren Ausführung darüber, dass die Außerirdischen eigentlich grau seien und Leber in der retikulanischen Galaxie teuer gehandelt wird. Colton weiß sichtlich nicht, was er davon halten soll - ob das nun ernst gemeint ist oder nicht. Auch später in der Episode scheint Mulder einen Konflikt eher zu provozieren, indem er wiederholt seine sonderbare Theorie offensiv vertritt, so mit den Fragen an Tooms am Lügendetektor (generell spielt Duchovny Mulders Distanziertheit zu seiner Umwelt viel ausgeprägter als noch im Pilotfilm oder in "Deep Throat"). Morgan & Wong deuten hier an, dass seine sonderbaren Theorien vielleicht nicht der alleinige Grund sind, warum Mulder zum Außenseiter wurde. Dennoch wird klar, dass Mulder nicht egal ist, was aus Scully wird, denn er sagt zu ihr, wenn sie sich lieber dem Colton-Team anschließen wolle, werde er ihr das nicht nachtragen.
Scully selber glaubt zwar nicht wirklich, dass Tooms schon seit 100 Jahren lebt und die vorherigen Mordserien auch begangen hat, kann aber mit den Alternativen noch weniger anfangen und wird ungehalten, als ihre Kollegen sich über Mulder lustig machen und die Ermittlungen eher behindern als sie voranzubringen. Obwohl sie sich erkennbar Sorgen um ihren guten Ruf macht, steht sie zu ihrem Partner. Wie Mulder sagt, "in our investigations, you may not always agree with me, but at least you respect the journey." Interessant ist hier, dass Scullys Profil hier richtig ist, sie liegt mit ihrer Einschätzung über den nächsten Schritt Tooms besser als der gelernte Profiler Mulder. Letztlich muss Scully akzeptieren, dass Tooms die ihm von Mulder zugeschriebene Fähigkeit hat, sich durch engste Öffnungen zu zwängen, spätestens, als sie selber angegriffen wird.
Es ist interessant, Scullys Entwicklung in dieser Episode zu beobachten. Am Anfang scheint sie noch ziemlich zwischen den Welten zu stehen und ich hatte den Eindruck, sie wäre schon ganz gern noch beim "FBI Mainstream" dabei. Es schien ihr fast ein bisschen peinlich zu sein, bei den X-Akten zu arbeiten - sie sieht sich veranlasst, ihre Arbeit und ihren neuen Partner zu verteidigen. Jedoch wird in der Episode auch deutlich, dass sie nicht so recht zu Colton und den anderen passt, denen es ausschließlich darum geht, möglichst schnell die Karriereleiter hochzuklettern. Am Ende ist sie dann richtig sauer auf Colton, als der die Posten von der Exeter Street 66 abziehen lässt: "Is this what it takes to climb the ladder Colton? Then I can't wait `til you fall off and land on your ass!" Wie absonderlich auch Mulders Theorien teilweise sind, verglichen mit diesen Leuten hat er wesentlich mehr Integrität, und mir schien das eine Zäsur zu sein, ab der sich Scully vom FBI-Mainstream ab- und Mulder zuwendet.
Absonderlich oder nicht, "Squeeze" ist einer der Fälle, in denen angesichts der Umstände und Alternativen Mulders Erklärung ab einem bestimmten Punkt plausibler wirkt als die Verrenkungen der Kollegen, eine "plausible" Erklärung ohne übernatürliche Phänomene zu finden (wie bspw. Coltons Idee, die Leber könnte für Organhandel entnommen worden sein - dazu muss man schon etwas chirurgischer vorgehen). Im Zusammenhang mit den X-Akten wurde hierfür der Begriff des "Scully-Syndroms" geprägt: Wenn beim Bestreben, unerklärliche Dinge unter Ausschluss übernatürlicher Faktoren zu erklären, so viele unwahrscheinliche Ereignisse miteinander verknüpft werden müssen, dass der übernatürliche Erklärungsansatz der plausiblere ist. Obwohl Morgan & Wong Mulder hier (wie auch in späteren Episoden) eher mit einem kritischen Blickwinkel schreiben, als Zuschauer ist man hier auf Mulders Seite, weil man merkt, dass er recht hat, und die Weigerung der Kollegen, sich seine Theorie auch nur anzuhören, sie borniert erscheinen lässt.
Die Episode ist m.M.n. eine der besten Monster of the Week-Folgen überhaupt und glänzt sowohl mit den Charakterentwicklungen und witzigen Dialogen als auch mit erschreckenden Horrorszenen. Schon der Teaser, in dem man nicht viel vom Täter und der Tat sieht, außer sich öffnenden Lüftungsgittern und Fingern, die hindurchschlüpfen, ist phantastisch inszeniert. Es gibt viele weitere denkwürdige Szenen, so als Mulder und Scully im Keller das Nest entdecken, oder als Tooms den Kamin hinunter kriecht. Als Tooms am Ende in seiner Zelle sitzt, auf den Türschlitz starrt und grinst, weiß der Zuschauer, dass diese Geschichte noch nicht zuende ist. Eine großartige Horrorepisode, für es sechs aufgeschraubte Lüftungsgitter von mir gibt.