Akte X - Staffel 1




Alles zu Chris Carters Mystery-Serien Akte X, MillenniuM und The Lone Gunmen

Re: Akte X - Staffel 1

Beitragvon nevermore » So 5. Mai 2019, 21:49

Folge 13, Staffel 1: "Die Botschaft / Beyond the Sea"

Drehbuch: Glen Morgan & James Wong
Regie: David Nutter



Während Scully versucht, mit dem plötzlichen Tod ihres Vaters fertigzuwerden, werden sie und Mulder zu einem zum Tode verurteilten Mörder gerufen, der behauptet, hellsichtig zu sein und Informationen über einen aktuellen Entführungsfall zu haben. Mulder misstraut dem Mann, dessen Täterprofil er selbst erstellt hat; Scully hingegen beginnt ihm zu glauben, da er persönliche Dinge über das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Vater weiß.

"Beyond the Sea" ist die erste Episode, in der Scully ganz im Mittelpunkt steht - bereits der Teaser zeigt nicht den aktuellen Entführungsfall, sondern ist ganz auf Scully, ihre Vision von ihrem soeben verstorbenen Vater und ihre Reaktion auf die Nachricht von seinem Tod fokussiert. Wir erfahren etwas von ihrem Hintergrund - und anders als in "Fire" kommen die Handlungselemente nicht aus dem heiteren Himmel, sondern werden aus einer Dialogzeile im Pilotfilm entwickelt: "My parents still think it was an act of rebellion, but I saw the F.B.I. as a place where I could distinguish myself." Scullys Eltern, insbesondere ihr Vater, ein Navy-Captain im Ruhestand, waren also von ihrer Entscheidung, sich dem FBI anzuschließen, nicht begeistert. Offenbar hatte sie als Kind ein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Vater, sie sprachen sich gegenseitig mit Spitznamen aus "Moby Dick" an - Scully war Starbuck, während ihr Vater Captain Ahab war. Ihre Unsicherheit, ob ihr Vater je ihre Entscheidung, sich dem FBI anzuschließen, akzeptiert hat, treibt sie nach seinem Tod um und der Wunsch, ihm diese Frage stellen zu können, ist ihre Schwachstelle, die sich Luther Boggs zunutze macht.

Ohnehin ist Scully durch den Tod ihres Vaters und die Vision, die sie zum Zeitpunkt seines Todes von ihm hatte - er schien ihr etwas mitteilen zu wollen - in ihrem Skeptizismus erschüttert. Die Vision ist ganz klar ein paranormales Erlebnis, das sie nicht wegdiskutieren kann. Boggs, der ihr gegen die Unterstützung eines Gnadengesuchs für ihn anbietet, mittels seiner hellsichtigen Fähigkeiten zu ihrem Vater Kontakt aufzunehmen, scheint sehr persönliche Dinge über sie und ihren Vater zu wissen: Die beiden Spitznamen, und ein Lied, das titelgebende "Beyond the Sea", das auf seiner Beerdigung gespielt wurde. In ihrem Wunsch, mit ihrem Vater in Kontakt zu treten, lässt sie sich schließlich auf Boggs ein. Sie versucht, eine Begnadigung für ihn auszuhandeln im Austausch gegen Informationen über den Entführungsfall (was abgelehnt wird), und lässt sich von seinen Beschreibungen an den Tatort leiten.

In "Beyond the Sea" tritt Scully erstmals richtig aus der Rolle von Mulders Begleiterin und Skeptikerin heraus, und wird von den Autoren zu einem viel komplexeren, vielschichtigeren Charakter weiterentwickelt. Momente, in denen ihre rationale Fassade fiel, gab es zwar auch vorher schon - so im Pilotfilm, als sie wegen diesen Mückenstichen in Panik geriet. Hier aber weiß sie tatsächlich erstmals nicht mehr, was sie glauben soll. Die Szenen mit Boggs im Gefängnis zeigen ihre innere Zerrissenheit sehr schön. Ihre gefasste Fassade fällt dann vollends, als Mulder dann an dem Ort, zu dem Boggs ihn geführt hat, angeschossen wird. Sie rastet in der Zelle regelrecht aus, so wütend hat man sie bisher nicht gesehen. "If he dies because of what you've done, four days from now, no one will be able to stop me from being the one that will throw the switch and gas you out of this life for good, you son of a bitch!" Jetzt unmittelbar nach ihrem Vater auch noch Mulder zu verlieren, weil sie selbst in eine Falle von Boggs gestolpert ist, dieses Szenario ist für sie zuviel.

Boggs selber, fantastisch gespielt von Brad Dourif, ist ein großartiger Bösewicht. Ständig versucht er Mulder und Scully gegeneinander auszuspielen, die ganze Episode hindurch weiß man nicht so recht, woran man mit ihm ist. Er benutzt die emotional angeschlagene Scully, um eine weitere Chance zu erhalten, der Hinrichtung zu entkommen. Wieviel, wenn überhaupt etwas, von seinen Visionen ist echt, und wieviel inszeniert? Irgendeine Fähigkeit scheint er zu haben; die Dinge, die er über Scully weiß, kann er nicht aus irgendwelchen Akten wissen. Andererseits ist klar auch ein Teil davon Schauspielerei, wie die Szene, als Mulder ihm das falsche T-Shirt unterjubelt, zeigt. Bis zuletzt lässt einen die Episode im Unklaren, ob er mit dem Entführer unter einer Decke steckte und ihn am Ende fallen lässt, oder tatsächlich durch sein Erlebnis auf dem Stuhl während seiner ersten geplanten Hinrichtung, der er gerade noch entkam, bekehrt worden ist. Seine Angst vor dem Tod scheint echt zu sein: Obwohl Scullys Versuch, die Hinrichtung abzuwenden, gescheitert ist, verspricht er ihr, eine Nachricht von ihrem Vater zu überbringen, wenn sie bei der Hinrichtung bei ihm ist.

Am Ende geht Scully nicht zu Boggs Hinrichtung. Statt dessen besucht sie Mulder im Krankenhaus, so dass weder sie noch wir erfahren, ob Boggs tatsächlich eine Nachricht für sie hatte. Es hat etwas den Anschein, als habe in ihrem Konflikt zwischen dem Wunsch nach einem letzten Wort von ihrem Vater und der Angst, ihr Skeptizismus könnte sich als falsch erweisen, die Angst gewonnen. Sie versucht, zu rationalisieren: "If he knew that I was your partner, he could have found out everything he knew about me. About my father..." - was angesichts der Art von Informationen, die Boggs hatte, sehr weit hergeholt erscheint. Als Mulder sie fragt, warum sie nicht glauben könne, antwortet sie: "I'm afraid to believe." Mit dieser Aussage wird bewusst ein Gegenstück zu Mulders Credo "I want to believe" hergestellt - und die Episode geht offensiv die Frage an, warum sich Scully so stur skeptizistisch und - gemessen an den Parametern des X-Files-Universums - irrational verhält. Als Wissenschaftlerin wäre die rationale Vorgehensweise, ihre Sichtweise zu revidieren, wenn sie sich immer wieder als falsch erweist - aber Scully hält daran fest. "Beyond the Sea" suggeriert, dass an der Wurzel ihres Skeptizismus nicht Rationalität, sondern die Angst vor Unverständlichem und Unerklärlichem ist.

Was Mulder angeht, kommt es in "Beyond the Sea" zu einem gewissen Rollentausch, denn erstmals in der Serie ist hier Mulder als der Skeptiker zu sehen. Mulder hat in seiner Funktion als Profiler Boggs vor Jahren überführt und hinter Gitter gebracht; schon damals versuchte Boggs, durch alle möglichen Manipulationen seinem Schicksal zu entgehen. Mulder traut ihm deshalb nicht über den Weg und glaubt ihm seine neu erlangten paranormalen Fähigkeiten nicht. Als Boggs ihm in die Falle geht, die er ihm mit dem angeblichen T-Shirt eines Opfers stellt, sieht er sich bestätigt. Er rät Scully, sich nur dann extremen Möglichkeiten zu öffen, "when they're the truth". Wenn man das immer wüsste! Man kann spekulieren, dass ihn etwas ärgert, dass Scully ausgerechnet in einer Situation anfängt, an paranormale Phänomene zu glauben, in der Mulder (der schon oft genug vergeblich versucht hat, sie genau dazu zu bringen) gar nichts dazu tut, und sogar versucht, sie davon abzubringen. Hat ihn das insgeheim etwas geärgert, dass nun der von ihm so verabscheute Luther Boggs das schafft, woran er selber gescheitert ist?

Natürlich profitierte Boggs davon, dass Scully vorher schon mürbe war, weil durch den Tod ihres Vaters emotional angeschlagen, der ihr zu allem Überfluss auch noch als Geist oder Vision erschienen ist. Schon dieses übersinnliche Erlebnis (m.W. das erste, das sie wirklich nicht wegerklären konnte) muss ihrer rigoros wissenschaftlichen Haltung einen ordentlichen Schlag versetzt haben - was sie Mulder aber nicht erzählt. Als Konsequenz ist Mulder, der sich unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters noch sehr einfühlsam verhält, danach in der Angelegenheit mit Boggs so gar keine Hilfe mehr. Da er von ihrer Vision ihres Vaters und Boggs Informationen über das Lied und ihren Spitznamen "Starbuck" nichts weiß, geht er kaum auf ihre durcheinandergewirbelte Gefühlswelt ein, sondern redet in seinem Groll auf Boggs nur ständig auf sie ein, dass sie ihm nicht glauben dürfe. Zu allem Überfluss wird er dann noch angeschossen und landet im Krankenhaus, so dass Scully mit der Situation vollends alleine gelassen ist.

Eine der größten Stärken der Episode ist Gaststar Brad Dourif in der Rolle des undurchsichtigen Luther Boggs, bei dem man nie weiß, woran man ist. Besonders die Art und Weise, wie er beim vermeintlichen oder tatsächlichen Channeln anderer Wesenheiten in Sekundenbruchteilen zu einem völlig anderen Charakter zu werden scheint, sind großartig gespielt. Dourif verändert nicht nur seine Stimme, sondern seine Körpersprache, und die ganze Art und Weise, wie er mit anderen interagiert. Der Ausdruck von Verzweiflung, als Scully nicht zu seiner Hinrichtung kommt, erweckt am Ende noch Mitleid mit ihm. Auch Gillian Anderson wird in dieser Episode erstmals so richtig schauspielerisch gefordert und meistert alle Aufgaben, vor die sie gestellt wird, mit Bravour - Scullys Trauer um ihren Vater, ihre Verwirrung und Zerrissenheit angesichts des Wissens von Boggs, und natürlich Scullys Rage in Boggs Zelle, nachdem Mulder angeschossen worden ist.

Der eigentliche Entführungsfall tritt in "Beyond the Sea" völlig in den Hintergrund. Bemerkenswert ist, dass der Entführer Lucas Jackson Henry dennoch eine persönliche Geschichte und Psychologie erhält. Im Großen und Ganzen ist der Entführungsfall jedoch eher uninteressant. Im Zentrum der Episode stehen die Interaktionen zwischen Scully und Luther Boggs. Es wurden Vergleiche zum "Schweigen der Lämmer" gezogen, was nicht verwunderlich ist, geht es doch auch hier um eine junge FBI-Agentin, die ein inhaftierter Mörder zu manipulieren versucht. Während zwischen Scully und Clarice Sterling eine unzweifelhafte Verwandtschaft besteht, die Chris Carter auch nie leugnete, hat jedoch der nahe am emotionalen Zusammenbruch balancierende Boggs mit dem kühlen, kalkulierenden Hannibal Lector nicht viel gemein. Der Rollentausch und die Gegenüberstellung der Charaktere Mulders und Scullys hat mir gut gefallen, ebenso, dass sich die Serie hier mit der Konfrontation mit dem Tod und Botschaften aus dem Jenseits erstmals auf eine mystische und metaphysische Ebene begibt. Insgesamt vergebe ich gute fünf Henkersmahlzeiten dafür.
nevermore
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