Die Nebel von Avalon
Dann will ich mal den Lesezirkel einleiten; wie vorgeschlagen werde ich immer dann weitermachen, wenn zu einem Kapitel keine neuen Beiträge mehr kommen. Ich fange an mit dem Prolog. Der ist zwar kurz, aber es sind einige interessante Gedanken drin, die vielleicht der Diskussion wert sind.
Im Prolog erzählt Morgaine in einer nach Artus Tod geschriebenen Retrospektive über das Verhältnis zwischen Christentum und ihrem eigenen Glauben. Sie betrachtet nicht Christus als Feind, wohl aber die christlichen Priester, die lehren, dass die Göttin ein böser Geist sei und ihre Macht vom Teufel komme. Im Unterschied zu ihrem eigenen Glauben, nach dem die Menschen durch ihre Gedanken und Taten die Welt selber erschaffen, geht das Christentum von einer von Gott unveränderlich geschaffenen Welt aus. Die Idee, dass Menschen Einfluss auf die Schöpfung haben könnten, empfinden christliche Priester als Bedrohung. Morgaine fürchtet, dass die Christen in der Auseinandersetzung als Sieger hervorgehen werden. Die Folge ist, dass die Welt der Feen immer ferner rückt und schließlich die Feenwelt und die heilige Insel Avalon nur noch Eingeweihten zugänglich sein wird. Bevor die Christen kamen, konnte jeder Avalon erreichen, heute landet ein Reisender dagegen auf der christlichen "Insel der Mönche", während ihm Avalon verborgen bleibt.
Morgaine geht außerdem auf Artus ein, ihren Bruder, Geliebten und König. Artus ist zum Zeitpunkt ihrer Erzählung tot, bzw. er ruht auf der Insel Avalon. Während sie ihn besonders zu Ende seiner Herrschaft als Gegner ihres Glaubens ansah, betrachtete sie ihn, als er starb, als Bruder, der Hilfe braucht - und wurde umgekehrt von ihr selbst als Priesterin angesehen.
Schließlich beschreibt Morgaine noch einige weitere Unterschiede zwischen ihrem und dem christlichen Glauben. Ihre Gabe des zweiten Gesichts, die vom Christentum als Teufelswerk betrachtet wird, und die Einsicht, dass die Wahheit viele Gesichter hat, und es von den Menschen selber abhängt, welchen Weg sie einschlagen. Und dass alle Götter ein Gott, und alle Göttinnen eine Göttin sind.
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Wie ich meine - und was ich denke, das man im Hinterkopf behalten solle - beschreibt Morgaine in diesem Prolog den entscheidenden Unterschied zwischen dem Christentum und dem Göttinnen-Glauben (ich weiß nicht, ob man ihren Glauben als "Wicca" bezeichnen sollte, denn es gibt noch andere Versionen des Göttinnen-Glaubens und ich bin auch nicht sicher, dass alle mit Zimmer-Bradleys Darstellung glücklich oder auch nur einig wären) vor allem durch zwei Dinge. Erstens darin, dass in ihrem Glauben die Anderswelt eine legitime Existenz ist, die nicht als "böse" bewertet wird, und dass der Durchgang zwischen "normaler" Welt und Anderswelt grundsätzlich offen ist. Im Christentum dagegen wird die Anderswelt als die Domäne des Bösen betrachtet und man versucht, die Tore zu dieser Welt zu verschließen. Zweitens darin, dass in ihrem Glauben Menschen durch ihre Gedanken und ihren Willen die Welt ständig neu erschaffen, und ihren Lebensweg selbst bestimmen, und dass es die eine richtige Wahrheit und den einen wahren Gott nicht gibt. Im Christentum hingegen hat nur ein Gott, der christliche, eine Existenzberechtigung, und die Welt wurde von ihm unveränderlich erschaffen. Sie geht nicht darauf ein, wie das Christentum die Frage nach der Wahl des Lebenswegs sieht.
Ich bin mir nicht sicher, ob diese Darstellung des Christentums so ganz zutreffend ist. Christliche Riten sprechen oft auch transzendente Sphären an, die eine Art von "Anderswelt" sind. Es ist zwar nicht die Welt der Feen, aber die Welt der Engel. Insofern ist auch im Christentum die transzendente Sphäre den Menschen nicht verschlossen. Auch was den zweiten Punkt betrifft, die Frage, ob Menschen die Welt neu erschaffen, oder ihren Lauf beeinflussen können, glaube ich nicht, dass alle Christen zustimmen würden, dass der Lauf der Dinge gottgegeben ist. Das scheint mir nur auf bestimmte Formen des Christentums zuzutreffen, gegen die sie sich hier richtet.
Was meint ihr?