Autoren- und Werkintention in der Textinterpretation




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Beitragvon nevermore » Do 10. Jul 2008, 17:55

Also im Fall von Musik trifft dieser Unterschied zum Buch meiner Meinung nach nicht zu. Es werden sowohl Noten vervielfältigt verkauft, als auch Aufnahmen auf CD, in nicht geringerem Ausmaß als Bücher (dasselbe natürlich bei Filmen). Und zumindest CD- und DVD-Aufzeichnungen werden in genau demselben Maß von mehr oder weniger fähigen und kenntnisreichen Leuten der Kritik unterzogen - im Sinne, "diese Szene hätte ich ganz anders gefilmt oder "dieser Teil der Komposition gefällt mir nicht" - und ich würde mal behaupten, dass genauso wenig Leute wirklich Filme machen oder komponieren wie malen können.

Dass bildende Kunst weniger auseinandergenommen wird, mag im Fall von Gemälden oder Skulpturen zutreffen (wobei bestimmte Zwischenfälle mit Beuys Fettecke mich zumindest zweifeln lassen, ob das generell gilt) - aber ist das tatsächlich ein Zeichen von Respekt, oder nur von Desinteresse oder Unkenntnis des Publikums? Außerdem sind Gemälde und Skulpturen nur ein sehr geringer Teil dessen, was an bildender Kunst geschaffen wird. Filme, wie gesagt, werden in ähnlicher Weise behandelt und der Kritik unterzogen wie Bücher; dasselbe gilt für Künstler, die beispielsweise für Comics zeichnen und malen. Auch diese Leute müssen sich der Kritik, ob sie nun respektvoll ist oder nicht, stellen und sich mit ihr auseinandersetzen.

Der Unterschied liegt meiner Meinung nach eher darin, ob ein Künstler in erster Linie malt, komponiert, oder schreibt, um ein größeres Publikum zu erreichen, oder in erster Linie für sich selbst. In dem Moment, wo er für ein großes Publikum und vor allem für zahlendes Publikum arbeitet, muss er damit leben, dass er auch von einem großen Publikum (und nicht nur von einem Käufer) Rückmeldung bekommt, die eventuell auch nicht immer erfreulich oder auch nur respektvoll ist. Wer das als Schriftsteller nicht will, hat ebenso die Möglichkeit, Unikate zu schreiben (Rowling hat das mit ihrem Märchenbuch ja bewiesen), nur muss er dann auch damit leben, dass er in der Regel damit eben seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann oder auch gar kein Geld damit verdient. Die wenigsten bildenden Künstler können mit ihrer Kunst ihren Lebensunterhalt bestreiten. Und warum sollten Leute nicht nur für sich selbst schreiben? Tagebuchschreiber tun genau das, und m.W. gibt es nicht wenige Leute, die Gedichte nur oder vor allem für sich selber schreiben. Selbst professionelle Autoren schreiben teilweise für sich selber - ich weiß von einer Anekdote, dass jemand ein Buch selber geschrieben hat, weil er nirgendwo das fand, was er lesen wollte. Das Buch war nie zur Veröffentlichung bestimmt.

Und ist das tatsächlich so, dass Kunst erst einmal unverfälscht, also ohne Ansehen der Biographie, betrachtet wird, während das bei Büchern anders ist? Die meisten Leute lesen Bücher ohne Kenntnis der Biographie des Autors. Die meisten Leute, die sich mit einem Kunstwerk etwas genauer auseinandersetzen, informieren sich früher oder später, was für ein Mensch der Künstler ist. Ich kann mich noch an meinen Kunst-Leistungskurs im Abi erinnern und daran, dass mindestens ein Drittel davon aus dem Studium von Biographie und sozialem Umfeld der behandelten Künstler und ein weiteres Drittel aus Farb-, Kompositions- und ähnlichen Theorien bestand. Ist es tatsächlich "besser", ein Kunstwerk unverfälscht zu betrachten? Ich würde sagen, hier ist es ganz ähnlich wie bei Büchern - in manchen Fällen bringen biographische Informationen nicht viel, in anderen dagegen, wie Van Gogh, sieht ein Bild plötzlich ganz anders aus, wenn man es vor dem biographischen Hintergrund sieht. Und ich bin nicht sicher, ob da die unverfälschte Sichtweise tatsächlich die "bessere" ist.
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von Anzeige » Do 10. Jul 2008, 17:55

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Beitragvon Demona » Do 10. Jul 2008, 19:54

Um ehrlich zu sein, ich habe in der Schule Text- oder Bücherinterpretationen immer gehasst. Ich ahbe meistens immer was anderes daraus gelesen, als der Lehrplan vorschrieb und der Lehrer von mir erwartete.
M.E. finde ich ein solches Verhalten anmaßend, da jeder Mensch anders ist, kann es ja auch zu anderen Interpretationen und Auslegungen kommen.

Das ist ja dann fast so, als wenn ich vor meiner Katze sitzen würde und sie mir die Ohren voll miaut und ich mir vorstellen könnte, was sie mir da gerade sagen will und dann kommt in Typ Marke "Oberlehrer" und sagt: "Nein, das hat deine Katze nicht gesagt, sondern das."
Woher will er das denn wissen? Hat er jahrelang mit ihr zusammen gelebt? Kennt er das Seelenleben meiner Katze? Nein, also ist es doch eine Ermessenssache, was ich interpretiere.
"Möge Gott sein zwischen Dir und dem Leid, an allen verlassenen Orten, die Du erreichen wirst." (ägyptischer Segensspruch "Babylon 5")

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Beitragvon Cellmorbasg » Do 10. Jul 2008, 21:09

Nur eine kurze Zwischenbemerkung:
Ich denke schon, dass es respektvoller für ein Werk ist, wenn man es sich unabhängig von der Biografie des Schaffenden anschaut.
Wenn man das dann getan hat und weiter vordringen möchte in die Materie, dann ist es von großer Wichtigkeit, dass man das Leben des Schaffenden hinzu zieht.
Mit dem Künstler versteht man das Werk besser und auch anders herum mit dem Werk versteht man den Künstler besser.
Und nicht zuletzt hilft ein Werk auch, sich selbst besser zu verstehen.

Und hier sehe ich eher keine Unterschiede zwischen Literatur, Malerei, Musik und den anderen Sachen.
Ein Großteil dessen, was wir über Mittelerde wissen, stammt nicht aus Werken, die J.R.R. Tolkien selbst veröffentlicht hat.
Eine Malerei in einer Kirche ist immer für Publikum gedacht und nicht nur für den, der sie bezahlt.
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Beitragvon löweneckerchen » Do 10. Jul 2008, 21:32

Cellmorbasg hat geschrieben:Eine Malerei in einer Kirche ist immer für Publikum gedacht und nicht nur für den, der sie bezahlt.


ja das stimmt, das habe ich nicht bedacht und die meisten Konzerte wurden auch für Konzerthallen und viele Besucher geschrieben, ebenso verhält es sich mit Theaterstücken...
Was mich nach langem Studium schon fast kurz vor der Doktorarbeit dazu bewogen hat, dieses Studium hinzuschmeißen, war unter anderem der dogmatische Ansatz. Das ist so oder so, Punkt. Kein Freiraum für eigene Maßstäbe. Das ist, was ich an einer unbedarften (positiv gemeint) Herangehensweise auch gut finde, der große Freiraum zur eigenen Interpretation. Und da ist es egal, ob irgendein "Fachmensch" gesagt hat, dass es zur Analyse nur eine Methode gibt.

Mein Weltbild ist das der als großen Vielfalt. So viele Dinge haben wir überhaupt noch nicht entdeckt oder erforscht, warum dann diese Engstirnigkeit in vielen Wissenschaften. Mich hat der Betrieb und dieses Understatement Denken gepaart mit viel, wie soll ich sagen, "Facharroganz" so genervt, dass ich dem ganzen Unibetrieb schließlich den Rücken gekehrt habe.
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Beitragvon nevermore » Sa 12. Jul 2008, 13:19

löweneckerchen hat geschrieben: Was mich nach langem Studium schon fast kurz vor der Doktorarbeit dazu bewogen hat, dieses Studium hinzuschmeißen, war unter anderem der dogmatische Ansatz. Das ist so oder so, Punkt. Kein Freiraum für eigene Maßstäbe. Das ist, was ich an einer unbedarften (positiv gemeint) Herangehensweise auch gut finde, der große Freiraum zur eigenen Interpretation. Und da ist es egal, ob irgendein "Fachmensch" gesagt hat, dass es zur Analyse nur eine Methode gibt.

Mein Weltbild ist das der als großen Vielfalt. So viele Dinge haben wir überhaupt noch nicht entdeckt oder erforscht, warum dann diese Engstirnigkeit in vielen Wissenschaften. Mich hat der Betrieb und dieses Understatement Denken gepaart mit viel, wie soll ich sagen, "Facharroganz" so genervt, dass ich dem ganzen Unibetrieb schließlich den Rücken gekehrt habe.


Tja, dem kann ich mich leider nur anschließen. In meinem Fach ist das auch ziemlich extrem - wobei die "Heterodoxen" genauso dogmatisch oder gar noch dogmatischer sind als die Orthodoxen. Statt Wissenschaft werden da Glaubenskriege betrieben ...

Wobei den Uni-Leuten, abgesehen von einigen, die völlig den Realitätsbezug verloren haben, meistens zumindest noch klar ist, dass sie von theoretischen Idealisierungen reden und die Realität etwas anders aussieht. Schlimmer finde ich die, die diese theoretischen Idealisierungen irgendwie aufgeschnappt haben und sie dann in Laiendiskussionen vertreten, als ob sie von der realen Welt reden. Dann kommen solche Dinge heraus wie "ein Autor, der meine Interpretation nicht bestätigt, ist ein Lügner". Deshalb meine Frage weiter oben, ob diese "Meinung des Autors ist irrelevant" solch eine falsch verstandene Übernahme eines theoretischen Idealmodells ist.
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Beitragvon frared » Mi 23. Jul 2008, 14:14

nur kurz... irgendwie nehmt ihr den kreativen prozess fuer sehr selbstverstaendlich. wir koennen ja noch ncihtmal sagen warum wir diese dinge ueberhaupt machen.

persoenlich finde ich es am leichtesten zu lgauben, dass es das werk ist, dass da spricht und dass sich in der rezeption enthuellt. und es zu *sehen* und diese erfahrung wiederum in worte zu kleiden, in eigene worte, ist interpretation. nicht das hueftsteife zeug aus der schule, sondern sich selbst zum werk bringen und schauen was passiert.
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Beitragvon nevermore » Mi 23. Jul 2008, 14:34

Ja, wie schon oben gesagt, das ist wirklich eine weltanschauliche Frage, die letztendlich auf das Menschenbild hinausläuft. Ich glaube, dass ein kreativer Mensch nicht nur irgendwelche höheren Quellen "channelt" und damit als eine Art Telefonist agiert, sondern er selber einen Beitrag leistet und dieser Beitrag von seiner eigenen Entwicklung und seinem Umfeld mitgeprägt ist. Insofern mag das Werk sehr wohl für sich selber sprechen, aber es ist von der Lebenserfahrung, der Persönlichkeit und dem Umfeld des Autors geprägt - weswegen man diese meiner Ansicht nach nicht einfach außer Acht lassen sollte.

Umgekehrt ist eine eigene Interpretation von der Lebenserfahrung, dem Umfeld und der Selbstwahrnehmung des Rezipienten geprägt - und sagt unter Umständen deshalb mehr über den Rezipienten aus, als über das Werk.
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Beitragvon frared » Do 24. Jul 2008, 13:15

nee, nicht ausser acht lassen, aber auch nicht den eindruck ueberschreiben lassen. ich finde es wird halt oft die biographie eins zu eins uebernommen als schluessel fuer 'das werk'.

ich denk weil es aus beidem besteht, bewusstem und unbewusstem, und der autor nicht gezwungen werden sollte, das auseinanderzuhalten, ist es sinnvoller, ihn oder sie erstmal nicht zu betrachten.

aber im prinzip gilt das fuer eine bestimmte kunsttheorie und nicht alle kuenstler unterschreiben die.

jeanette winterson, falls du die mal gelesen hast, schreibt ueber coming out und erste liebe in der ersten person mit ihrem namen und laesst ihre heldin in ihrer heimat aufwachsen, das war der BBC zuviel, sodass sie fuer die verfilmung von 'oranges are not the only fruit' den namen der protagonistin aenderten.

du liest ja campbell und da geht es um identifikation mit dem helden, ich denke, dieser prozess, sich selbst in der geschichte zu finden, ist teil der interpretation, weil du die metapher, die die geschichte ist (wenn man denn diese theorie so annimmt) ja schon in dir und dann durch dich wieder zurueck zur geschichte kommunizierst und ihr damit leben gibst, alchemistisch und so.

ahem. weiss gar nicht ob das gross sinn ergibt jetzt.
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Beitragvon nevermore » Fr 25. Jul 2008, 16:27

Ich glaube, es wäre schon viel gewonnen, wenn mal unterschieden würde zwischen "was bedeutet die Geschichte für mich" und "was wollte der Autor damit sagen". Ich finde beide Betrachtungsweisen durchaus legitim.

Womit ich ein Problem habe ist lediglich, wenn Leute anfangen, bei der ersten Version das "für mich" wegzulassen, und behaupten, dass das, was die Geschichte für sie bedeutet, objektiv "richtig" ist. Noch besser wird es dann, wenn sie behaupten, dass das, was ein Autor nach eigener Aussage damit sagen wollte, "falsch" ist, oder nicht ernstgenommen werden darf, wenn es mit der eigenen Interpretation kollidiert.
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Beitragvon Cellmorbasg » Fr 25. Jul 2008, 18:52

Sehr interessant in diesem Zusammenhang finde ich auch, was mit der Bewertung eines Autors und seines Werkes passiert, wenn sich auf der Weste des Autors tiefschwarze lecken finden.
Aus meiner Sicht ändern Dinge wie Mitgliedschaft bei SS oder Stasi nicht die Bedeutung des Werkes an sich. Das Werk kann doch für sich genommen genial bleiben und ich kann es weiterhin schön finden - die Interpretation muss sich vielleicht ändern, aber das hängt natürlich davon ab, inwieweit die Biografie des Autors vorher überhaupt herangezogen wurde.
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