Also im Fall von Musik trifft dieser Unterschied zum Buch meiner Meinung nach nicht zu. Es werden sowohl Noten vervielfältigt verkauft, als auch Aufnahmen auf CD, in nicht geringerem Ausmaß als Bücher (dasselbe natürlich bei Filmen). Und zumindest CD- und DVD-Aufzeichnungen werden in genau demselben Maß von mehr oder weniger fähigen und kenntnisreichen Leuten der Kritik unterzogen - im Sinne, "diese Szene hätte ich ganz anders gefilmt oder "dieser Teil der Komposition gefällt mir nicht" - und ich würde mal behaupten, dass genauso wenig Leute wirklich Filme machen oder komponieren wie malen können.
Dass bildende Kunst weniger auseinandergenommen wird, mag im Fall von Gemälden oder Skulpturen zutreffen (wobei bestimmte Zwischenfälle mit Beuys Fettecke mich zumindest zweifeln lassen, ob das generell gilt) - aber ist das tatsächlich ein Zeichen von Respekt, oder nur von Desinteresse oder Unkenntnis des Publikums? Außerdem sind Gemälde und Skulpturen nur ein sehr geringer Teil dessen, was an bildender Kunst geschaffen wird. Filme, wie gesagt, werden in ähnlicher Weise behandelt und der Kritik unterzogen wie Bücher; dasselbe gilt für Künstler, die beispielsweise für Comics zeichnen und malen. Auch diese Leute müssen sich der Kritik, ob sie nun respektvoll ist oder nicht, stellen und sich mit ihr auseinandersetzen.
Der Unterschied liegt meiner Meinung nach eher darin, ob ein Künstler in erster Linie malt, komponiert, oder schreibt, um ein größeres Publikum zu erreichen, oder in erster Linie für sich selbst. In dem Moment, wo er für ein großes Publikum und vor allem für zahlendes Publikum arbeitet, muss er damit leben, dass er auch von einem großen Publikum (und nicht nur von einem Käufer) Rückmeldung bekommt, die eventuell auch nicht immer erfreulich oder auch nur respektvoll ist. Wer das als Schriftsteller nicht will, hat ebenso die Möglichkeit, Unikate zu schreiben (Rowling hat das mit ihrem Märchenbuch ja bewiesen), nur muss er dann auch damit leben, dass er in der Regel damit eben seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann oder auch gar kein Geld damit verdient. Die wenigsten bildenden Künstler können mit ihrer Kunst ihren Lebensunterhalt bestreiten. Und warum sollten Leute nicht nur für sich selbst schreiben? Tagebuchschreiber tun genau das, und m.W. gibt es nicht wenige Leute, die Gedichte nur oder vor allem für sich selber schreiben. Selbst professionelle Autoren schreiben teilweise für sich selber - ich weiß von einer Anekdote, dass jemand ein Buch selber geschrieben hat, weil er nirgendwo das fand, was er lesen wollte. Das Buch war nie zur Veröffentlichung bestimmt.
Und ist das tatsächlich so, dass Kunst erst einmal unverfälscht, also ohne Ansehen der Biographie, betrachtet wird, während das bei Büchern anders ist? Die meisten Leute lesen Bücher ohne Kenntnis der Biographie des Autors. Die meisten Leute, die sich mit einem Kunstwerk etwas genauer auseinandersetzen, informieren sich früher oder später, was für ein Mensch der Künstler ist. Ich kann mich noch an meinen Kunst-Leistungskurs im Abi erinnern und daran, dass mindestens ein Drittel davon aus dem Studium von Biographie und sozialem Umfeld der behandelten Künstler und ein weiteres Drittel aus Farb-, Kompositions- und ähnlichen Theorien bestand. Ist es tatsächlich "besser", ein Kunstwerk unverfälscht zu betrachten? Ich würde sagen, hier ist es ganz ähnlich wie bei Büchern - in manchen Fällen bringen biographische Informationen nicht viel, in anderen dagegen, wie Van Gogh, sieht ein Bild plötzlich ganz anders aus, wenn man es vor dem biographischen Hintergrund sieht. Und ich bin nicht sicher, ob da die unverfälschte Sichtweise tatsächlich die "bessere" ist.