Harper Lee schreibt neuen Roman nach ihrem Welterfolg: "Wer die Nachtigall stört"




Literatur-Klassiker und historische Literatur

Harper Lee schreibt neuen Roman nach ihrem Welterfolg: "Wer die Nachtigall stört"

Beitragvon Bernhard Nowak » Fr 31. Jul 2015, 22:20

Harper Lee schreibt neuen Roman nach ihrem Welterfolg: "Wer die Nachtigall stört"
Ich liebe das Buch: "Wer die Nachtigall stört" von Harper Lee. Nun wurde ihr Erstling, der Atticus zum Rassisten macht, veröffentlicht - ich lese ihn gerade:

Der zweite Roman gilt ja immer als besonders schwierig, zumal nach einem erfolgreichen Debüt. Mit „Gehe hin, stelle einen Wächter“ sind nun solche und andere literarische Gesetzmäßigkeiten auf den Kopf gestellt. Denn dies ist Harper Lees eigentliches Debüt, auf das sie 1960 „Wer die Nachtigall stört“ folgen ließ, das sich in jeder Hinsicht – stilistisch, sprachlich, thematisch – so grandios gehalten hat, wie es nur große Literatur vermag. So kommt es, dass die Fallhöhe des Debüts hier von dem Roman bestimmt wird, der danach geschrieben wurde, anstatt umgekehrt.



Quelle: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/b ... 04501.html

Weitere Rezensionen und Hintergründe zur Entstehungsgeschichte des Buches:

http://www.sueddeutsche.de/kultur/liter ... -1.2563806
http://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/Har ... er102.html
http://www.spiegel.de/kultur/literatur/ ... 43710.html
http://www.tagesspiegel.de/kultur/harpe ... 75016.html
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/b ... 04501.html

Jetzt, nach Lektüre des Werks, stellen sich ganz andere Fragen. Warum riet die erfahrene Lektorin Therese „Tay“ von Hohoff Torrey 1957 Harper Lee davon ab, diesen haltungsstarken Roman zu veröffentlichen, der sicher großes Aufsehen erregt hätte? Warum legte sie der Autorin nahe, stattdessen ein versöhnlicheres Buch zu schreiben, das die Kindheit ihrer Protagonistin Jean Louise, genannt „Scout“, in den Mittelpunkt rückt und den verwitweten Vater, den Anwalt Atticus Finch, zum Inbegriff des rechtschaffenen amerikanischen Bürgers stilisiert?




In der Tat eine ganz wichtige Frage.

Die junge Scout in "Wer die Nachtigall stört" vergöttert ihren Vater. Die Studentin entdeckt rassistische Züge an ihrem früheren Idol. Aktuell, wenn man die Debatte in den USA nach den Ereignissen etwa in Charleston verfolgt.
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Re: Harper Lee schreibt neuen Roman nach ihrem Welterfolg: "Wer die Nachtigall stört"

Beitragvon Bernhard Nowak » Sa 15. Aug 2015, 00:33

Meine Rezension des Buches für unsere Büchereizeitung "Bücherpunsch":

Harper Lee wurde bekannt durch ihren Roman „Wer die Nachtigall stört“ aus den 1960-er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Beschreibung der Kindheit der Autorin in Maycomb in Alabama ist mittlerweile zu einem Literaturklassiker geworden. Was lange niemand ahnte: dieses Buch war nicht der einzige, ja nicht einmal der Debutroman der Autorin. Während in „Wer die Nachtigall stört“ die siebenjährige Scout in Ich-Form ihre Kindheitserlebnisse in den USA der 1930-ger Jahre schildert und dabei den Zauber und die Poesie einer Kindheit im tiefen Süden der Vereinigten Staaten beschwor, spielt „Gehe hin, stelle einen Wächter“ rund 20 Jahre später. Die 26-jährige Jean-Luise kehrt in ihre Heimatstadt zurück, um den Sommer bei ihrer Familie zu verbringen. Geprägt durch die liberale Atmosphäre in New York, kann sie die Einstellung vieler Bewohner Maycombs zu den Schwarzen nicht nachvollziehen. Vor allem ihr Vater Atticus entpuppt sich als Rassist, der Neger (dieser Begriff des Orginals „negro“ wurde in der Übersetzung wegen des Zeitpunktes der Entstehung des Buches orgininalgetreu mit „Neger“ übersetzt) ihrer Rasse wegen für minderwertig hält.
Jean Luises Weltbild wird damit auf den Kopf gestellt. Hatte ihr Vater nicht in „Wer die Nachtigall stört“ einen Neger, den er für unschuldig hielt, verteidigt? Hatte er nicht Werte wie Toleranz, Güte und Pflichtbewußtsein wie kein anderer für die Tochter verkörpert? Wie kommt dieser Sinneswandel zustande? Oder hat sich die Tochter von jeher in ihrem Vater getäuscht? Soll sie sich von ihm lossagen, mit ihm brechen? Ist es nicht genau das, was ihr Gewissen - Jean Luise lehnt Rassismus aus tiefstem Herzen ab – jetzt von ihr verlangen muss?
Mitte der 1960-ger Jahre entstanden erzählt „Gehe hin, stelle einen Wächter“ die Geschichte von der schmerzhaften Abnabelung einer Tochter von ihrem vergötterten Vater. Erzählperspektive ist hier – im Gegensatz zur „Nachtigall“ - nicht die Ich-Form, sondern die distanziertere Sie-Form. Alles wird aus der Perspektive Jean-Luises erzählt; die (neue) Erzählperspektive verwehrt dem Leser jedoch die totale Identifikation mit der personalen Erzählerin. Die Zweifel der Protagonistin (hat sie sich geändert oder sind alle Bekannten ihrer Umgebung plötzlich verrückt geworden?) werden so beklemmend deutlich; auch der Leser muss sich „entscheiden“ ohne dazu verführt zu werden, sich (zu vorschnell?) mit Jean-Luise zu identifizieren. Diese Zweifel der Erzählerin wachsen auch, da ihr ein gleichaltriger Ratgeber fehlt: der von Jean-Luise geliebte Bruder Jem ist – ebenfalls ein „Schock“ für Kenner der „Nachtigall“ -, allzu früh verstorben, sodass zuletzt ihr deutlich älterer Onkel diese Funktion des Ratgebers übernimmt.
Das Buch wirkt beklemmender und komplexer als die „Nachtigall“, wirkt aber meines Erachtens genau deshalb noch authentischer und aufwühlender. So schön die „Nachtigall“ zu lesen ist, die Idealisierung der Vaterfigur erscheint doch etwas naiv (eine Naivität, die der Leser einer siebenjährigen Ich-Erzählerin allerdings abnimmt, der erwachsenen Protagonistin in diesem Buch jedoch nicht mehr abnehmen würde). So erweist sich Atticus im „Wächter“ (Atticus war der ursprünglich von der Autorin vorgeschlagene Titel dieses von der Lektorin abgelehnten Werkes) – als ein durchaus vielschichtigerer Charakter als der er in der „Nachtigall“ erscheint. Dies tut dem Roman meines Erachtens gut. Dass diese klassische „Story of Initiation“, also Geschichte vom Erwachsen-Werden so eindrucksvoll geraten ist, hängt meines Erachtens genau damit zusammen: wir erleben hier keine „heile“ Welt mit blütenweißen eindimensionalen Figuren ohne Fehl und Tadel; wir erleben hier facettenreiche, vielschichtige Charaktere und das Sich-Finden einer Persönlichkeit; Jean-Luise lernt, ihren Gefühlen und ihrem Gewissen zu vertrauen. Sie nabelt sich nicht nur von ihrem Vater ab, sondern dem Mann, mit dem sie sich ursprünglich verloben wollte: Henry Clinton, dem Gehilfen ihres Vaters. Denn sie erkennt: beide passen nicht zusammen, ihre Werthaltung ist grundverschieden. Daher müssen sie getrennte Wege gehen. Dieser Prozess der Abnabelung vom zukünftigen Verlobten geht etwas in dem Vater-Tochter-Konflikt unter, ist aber ebenso wichtig wie die Emanzipation vom Vater, der endlich vom (idealisierten) „Gott“ zum „Menschen“ degradiert aber meines Erachtens dadurch viel interessanter wird.
Ein vielschichtiges, sehr komplexes Meisterwerk voller Leidenschaft und einer bildhaften wunderbaren Sprache. Für mich ist dieses Buch angesichts der Rassenunruhen von Ferguson aber auch von beklemmender Aktualität: denn die Denkweise in Bezug auf die „mindere Intelligenz“ der Schwarzen, wie sie in den Debatten des Bürgerkomitees von Maycomb (aus einer dieser Versammlungen, die Jean-Luise heimlich besucht, wird berichtet) und aus den Worten von Atticus anklingen, scheinen mir beklemmend aktuell zu sein. Ich habe durch die Lektüre dieses Buches erkannt, wie Rassisten denken (Atticus beruft sich bei seinen Ideen auf niemand geringeren als einen der Gründerväter der USA, Thomas Jefferson, der ein Wahlrecht nur für die „gebildeten Schichten“ vorsah und dies „ungebildeten Negern“ verwehren wollte) und wie tief der Graben zwischen dem „liberalen“ Norden und dem Süden der USA immer noch ist. Und doch hat sich – wie die Wahl eines Schwarzen zum Präsidenten der USA zeigt – in den 60 Jahren seit dem Verfassen dieses Buches in dieser Beziehung viel getan. Die Botschaft der Geschichte aber, einen eigenen Standpunkt, eine eigene Werthaltung zu entwickeln und zu vertreten, die in dem zentralen Satz am Ende des Buches artikuliert wird: „Der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht“ (ausgesprochen durch Jean-Luises Onkel) ist zeitlos. Und genau darin liegt für mich der Wert dieses Werkes, welches meines Erachtens literarisch nicht hinter der „Nachtigall“ zurücksteht – eben weil es komplexer und vielschichtiger ist als der berühmte „Nachfolger“, der völlig zu recht zum „Südstaaten-Klassiker“ geworden ist.

„Gehe hin, stelle einen Wächter“ hat mich sehr beeindruckt. „Ein bewegender Roman über Familienbande und ein literarisches Zeitdokument voller Wiesheit, Humor und Leidenschaft“ heißt es in der Zusammenfassung im Buchumschlag. Genauso habe ich dieses Buch empfunden. Sehr lesenswert.
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