Simon Sebag Montefiore "Stalin - am Hof des roten Zaren




Literatur-Klassiker und historische Literatur

Simon Sebag Montefiore "Stalin - am Hof des roten Zaren

Beitragvon Gast » So 10. Aug 2008, 21:16

Simon Sebag Montefiore ?STALIN ? Am Hof des roten Zaren?

Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Thema hierher gehört, weil es kein Klassiker ist, aber ich zähle es einfach mal zu historischer Literatur und hoffe, dass ich damit richtig liege.

Ich weiß nicht, ob sich hier tatsächlich jemand für ?Onkel Josef? interessiert, aber wer das tut, sollte dieses Buch unbedingt lesen, denn hier bleibt Stalin nicht länger das abstrahierte Monstrum der Geschichtsschreibung, sondern wird auf einfache Art und Weise zum Menschen.

Immer unter Berücksichtigung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umstände, beschreibt der Autor das Leben Stalins und seiner Magnaten im Kreml.
Zeitlich beginnt die Biografie im Jahre 1917 und endet mit dem Tod des Diktators. In der Zwischenzeit erfährt man viel Privates aus bisher unveröffentlichten Memoiren, Briefwechseln, Interviews sowie Vernehmungsakten, wobei der Autor nie den Anschluss an die weltgeschichtlichen Prozesse verliert.
Aber diese Biografie verdankt ihre absolute Glaubwürdigkeit v.a. der Entmystifizierung Stalins, der endlich ein Gesicht, eine Geschichte, Gefühle, Familie und Freunde bekommt und somit die Auseinandersetzung mit der Geschichte, respektive des großen Terrors Ende der 30er Jahre, zu einem menschlichen Problem macht.
Stalin liebte das Kino und besaß ein eigenes, in dem er sich nahezu jeden Abend zwei bis drei Filme vorführen ließ, er nötigte seine Magnaten zu stundenlangen Essen mitten in der Nacht und trällerte mit Vorliebe georgische Lieder; er machte sich einen Spaß daraus, seine Gäste betrunken zu machen, um sie bloß zu stellen, gab sich zusammen mit dem britischen Premier Churchill einem Saufgelage hin und war ein großer Bewunderer Roosevelts; Die Konferenz von Jalta war politisch betrachtet sicher interessant, viel amüsanter aber die Tatsache, dass Stalin um ein Haar von einer schmelzenden riesigen Eistorte erschlagen worden wäre.
Dieser Mann hatte so viel Emotionen in sich, dass es schwer wird ihnen zu folgen. Er trauerte bis an sein Lebensende um seine zweite Ehefrau Nadja, die Selbstmord beging und badete sich bis zum Hals in Selbstmitleid. Er war ein Arbeitstier, schlief kaum und rief oft mitten in der Nacht seine Magnaten zu sich. Er neigte zu plötzlichen Wutausbrüchen, witterte überall Verrat und sein Neid auf den Erfolg anderer hat so manchen das Leben gekostet. Er konnte liebevoll mit seinen Kindern, besonders mit seiner Tochter umgehen, empfand ehrliche Sympathie für manche seiner Verbündeten und tiefsten Hass sowie Misstrauen für viele seiner engsten Vertrauten.
Im Kreml führte man bis zu Beginn des großen Terrors ein familiäres Leben, in dem alle Magnaten und deren Familien immer eng miteinander verbunden waren. Montefiore schildert etliche private Anekdoten, in denen Stalin einem fast sympathisch werden will, um ein paar Kapitel weiter darüber zu berichten, wie der Diktator selbst engste Verbündete und ehemals Freunde sowie deren gesamte Familie in den Tod oder die Lagerhaft schickte.

Man erfährt auch vieles über die Magnaten wie Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow, Beria, Mikojan, Cruschtschow, etc. selbst und kommt nicht umhin, auch für einige von ihnen etwas wie Sympathie und Verständnis zu entwickeln. Trotzdem macht der Autor dem Leser eindeutig bewusst, dass ohne diese Leute der Terror ebenso undenkbar gewesen wäre wie ohne Stalin selbst. Aber gerade die menschliche Darstellung dieser Personen bringt sie einem so nahe und schärft das Bewusstsein für die unglaublichen Greueltaten, die im selben Atemzug begangen worden sind.

Es gab kein entartetes Monster, das die Sowjetunion beherrschte und Millionen von Leuten den Tod brachte, sondern einen paranoiden, überaus intelligenten, hochgradig emotionalen und größenwahnsinnigen Menschen, der seinen ganz eigenen Anteil an der Weltgeschichte hatte.

Als negativen Punkt könnte man anbringen, dass Montefiore bei der Vielzahl seiner Quellen manchmal den Faden zu verlieren scheint und des weiteren Grundkenntnisse vorraussetzt, die meiner Meinung nach nicht unbedingt gegeben sein müssen, wenn man zum ersten mal in dieses Thema einsteigt.

Ich kann dieses Werk aber nur jedem weiter empfehlen, der sich auch nur ansatzweise für diese Thematik interessiert.


Liebe Grüße
Trevor
Gast
 

von Anzeige » So 10. Aug 2008, 21:16

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