Clark verkennt den deutschen Verursachungsanteil
Wozu hätte eine aufrechte, auf Friedenswahrung abgestellte England-Politik Bethmann Hollwegs geführt? Wohin eine entschieden bremsende reichsdeutsche Politik? Warum konnten die beiden Balkankriege im Vorfeld von 1914 vom europäischen Staatensystem aufgefangen werden, während das mit dem dritten von deutscher Seite nicht ernsthaft versucht wurde?
Durch sein Vorgehen verwischt Clark verblüffend einseitig den massiven deutschen Verursachungsanteil an der fatalen Konstellation, die zum Krieg geführt hat. Dem beschönigenden Kommentar des englischen Politikers Lloyd George aus den zwanziger Jahren, alle Staaten seien letztlich in das Unheil „hineingeschlittert“, wird zielstrebig zu neuer Geltung verholfen. Und der Verkaufserfolg auf dem deutschen Büchermarkt - keineswegs auf dem englischen! - verrät ein tiefsitzendes, jetzt wieder hochgespültes apologetisches Bedürfnis, sich von jenen Schuldvorwürfen zu befreien, die in der Kontroverse um das Kriegszielbuch des Hamburger Historikers Fritz Fischer („Griff nach der Weltmacht“, 1961) allenthalben verfochten worden waren.
Das gleichzeitig erschienene Buch des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler wird der intensiven Debatte über den Weltkrieg nicht von ferne gerecht. Offenbar muss man sich mit der einen gewaltigen Umfang erreichenden Forschungsliteratur ganz anders vertraut machen. Übrigens ist die strenge Deutschland-Zentriertheit seines Buchs den weitgespannten globalen, vergleichenden Perspektiven von Leonhard krass unterlegen. Münklers penetrante Kritik an Fischer bezeugt zudem die Verständnislosigkeit, mit der er dessen Leistung begegnet, jahrelang mit imponierender Zivilcourage als einziger deutscher Neuzeithistoriker die Kritik an der Julikrise 1914 und an den Kriegszielplänen bis 1918 - sowie an den damals nur zu oft verschwiegenen Kontinuitätslinien bis 1945 - pointiert vertreten zu haben.
Glanzstück zur Kriegsgeschichte
Doch glücklicherweise ist soeben die glänzende Analyse „Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs“des Freiburger Historikers Jörn Leonhard erschienen, die in einem umfangreichen Konvolut von 1150 Seiten ein wahrhaft umfassendes Panorama des Ersten Weltkriegs, seiner Vorgeschichte und seiner Ursachen, seines Verlaufs und seiner Folgen präsentiert.
Tatsächlich werden die Darstellungen der Julikrise bei Clark wie auch bei Münkler in weiten Kreisen als überfällige Rehabilitierung des wilhelminischen Deutschland verstanden. Träfe es zu, dass die militärische Führung und die zivile Reichsleitung nach dem Attentat von Sarajewo eine alles in allem nachvollziehbare, der Situation angemessene, keineswegs verantwortungslose Politik betrieben haben, fiele die These in sich zusammen, Deutschland habe durch die Verschärfung der Krise den großen Krieg unvermeidlich gemacht. Doch weder dem australischen noch dem deutschen Autor ist es gelungen, die unter den Historikern immer noch überwiegende Auffassung zu entkräften, dass der deutsche „Blankoscheck“ vom 6. Juli 1914 für die Donaumonarchie der entscheidende Wendepunkt war: die Entscheidung, die die Entwicklung so eskalieren ließ, dass am Ende der Weltkrieg stand.
Schwerer noch wiegt die Ausklammerung der innenpolitischen Vorgeschichte des deutschen Weges in den Ersten Weltkrieg bei Clark und Münkler. Der Militarismus war ein gesamteuropäisches Phänomen, aber nirgendwo waren die Gesellschaft und das politische Denken so militarisiert wie im Deutschen Reich. „Kriegsparteien“ gab es überall, aber nirgendwo verfügten sie über einen so breiten gesellschaftlichen und politischen Rückhalt wie in Deutschland. Er reichte vom ostelbischen Rittergutsbesitz über die Schwerindustrie und Teile des gebildeten Bürgertums bis zu den Verbänden des gewerblichen Mittelstandes und der kaufmännischen Angestellten. Deutschland war eine konstitutionelle, keine parlamentarische Monarchie. Der Reichskanzler war dem Kaiser, nicht dem Reichstag verantwortlich. Die militärische Kommandogewalt des Königs von Preußen, der zugleich Deutscher Kaiser war, bedurfte nicht der ministeriellen Gegenzeichnung - ein Relikt des Absolutismus.
[...] Bis heute nicht widerlegt ist Fischers Darstellung der deutschen Politik im Juli 1914, die ganz bewusst das Risiko der Ausweitung eines regionalen, serbisch-österreichischen Konflikts zu einem Weltbrand in Kauf nahm und damit den entscheidenden Anstoß zur „Urkatastrophe“ des zwanzigsten Jahrhunderts gab. Das begeisterte Echo, das der faktische Freispruch Deutschlands von der Hauptschuld am Ersten Weltkrieg in den Büchern von Clark und Münkler gefunden hat, legt jedoch eine Vermutung nahe: Ein überwiegend älteres, konservativ gestimmtes Segment des gebildeten deutschen Publikums fühlt sich durch die revisionistischen Darstellungen von einer narzisstischen Kränkung befreit: dem als verletzend empfundenen Vorwurf, dass Deutschland auch an der Auslösung des ersten der beiden Weltkriege den maßgeblichen Anteil gehabt habe. Es ist mithin die These von der Kontinuität der beiden Kriegsausbrüche, die den Protest hervorruft - ein paradoxer Befund, wenn man bedenkt, dass die Idee historischer Kontinuität zum Kernbestand konservativen Denkens gehört.
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