Folge 5, Staffel 1: "Der Teufel von Jersey / The Jersey Devil"Drehbuch: Chris Carter
Regie: Joe NapolitanoIn den Wäldern New Jerseys verschwindet ein Mann und wird tot und mit einem anscheinend von einem Menschen abgebissenen Oberarm aufgefunden. Mulder vermutet, es handle sich um den "Teufel von Jersey", ein Wesen, das örtlichen Legenden zufolge seit Jahrzehnten dort sein Unwesen treibt.
Akte X befasst sich in dieser Episode erstmalig mit alten Volkslegenden. Der historische
Jersey Devil hat in den üblichen Beschreibungen allerdings nichts mit der wilden Frau hier in der Episode gemein, sondern ist ein echtes mythologisches Wesen, das den gängigsten Beschreibungen nach eher aussieht wie ein Känguruh mit Fledermausflügeln. (Allerdings existieren auch Varianten, die von "half man, half beast" und Ähnlichem sprechen.) Warum Carter sich dazu entschieden hat, hier eine Art Bigfoot-Verwandten daraus zu machen, ist unklar. M.J. Koven vermutet in "The X Files and Literature", dass Carter beabsichtigte, einen möglichen wahren Kern der Volkslegende zugrunde zu legen und die Geschichte so zu erzählen, dass sie in einem X-Files-Universum tatsächlich passieren könnte. Es gibt Zitate von Carter, die dafür sprechen:
Chris Carter wanted to focus this episode on an evolutionary relic, rather than a generic hairy creature. He noted, "The idea was not to make this a monster per se, but almost a missing link." (The Truth Is Out There: The Official Guide to The X-Files, p. 110) Carter further explained, "I wanted to say, 'What happens if there was some sort of genetic snafu that could actually send us tumbling backwards, where to survive we would actually have to revert to our old ways?' So I wanted this idea that there could be somebody living out there who was either a reversion or who would never have evolved to our point, and really was a simpler, and in a way, more complete human being.
http://x-files.wikia.com/wiki/The_Jersey_DevilDie Episode beginnt mit einem historischen Fall im Jahr 1947, über den eine X-Akte existiert. Mulder nimmt die Existenz dieser X-Akte zum Anlass, sich in den Fall einzuschalten, der ihn ansonsten nichts angeht, sondern in die Zuständigkeit der örtlichen Polizei fällt. (In "Squeeze" verwendete er dasselbe Argument, um den Tooms-Fall an sich zu ziehen.) Der örtliche Polizeichef ist alles andere als begeistert über die Einmischung; wie sich später herausstellt, nicht nur, weil sich Mulder ohne triftigen Grund einschaltet, sondern weil er die Geschichte im Interesse der Stadt aus den Schlagzeilen halten will: Eine Mordserie durch ein die Stadt heimsuchendes Monster würde dem Tourismus in der Stadt schaden. Dass der Polizeichef Bescheid weiß, dass es sich nicht um "normale" Morde handelt, wird spätestens klar, als die Leiche des männlichen Jersey Devil aus der Autopsie verschwindet.
Scullys Versuche, Mulder von dem Fall abzubringen, indem sie ihn zum Anthropologieprofessor schleppt, bewirken eher das Gegenteil: Da der die Existenz eines solchen Wesens nicht komplett ausschließt und sogar über die Möglichkeit einer solchen Entdeckung ins Schwärmen gerät, ist Mulder danach erst recht entschlossen, der Sache nachzugehen (wofür er mit einer Nacht im Gefängnis bestraft wird).
Der Besuch beim Anthropologen enthält ein paar interessante Dialogzeilen:
MULDER: But what if something entered the food chain above us?
DR. DIAMOND: It won't happen, see our intelligence virtually insures us, barring the introduction of some alien life-form, we will live out our days as rulers of the world.
"Barring the introduction of some alien life-form" - eben das Thema, das Mulder vor allem umtreibt und um das es im Haupthandlungsbogen der Serie geht. Ein anderer Satz spielt eher auf die Monster of the Week-Folgen an:
MULDER: But, but what if through some fluke of nature, a human was born, who reverted to it's most animal instincts, a kind of carnivorous Neanderthal. Wouldn't he occupy a space above us on the food chain?
Solche "flukes of nature" sind in Akte X oftmals die Monsters of the Week; Mutanten, die aus irgendeinem Grund durch ihre Instinkte geleitet zu Mördern werden. Eugene Victor Tooms ist in dieser frühen Phase das offensichtlichste Beispiel.
Als unterschwelliges Thema der Episode schwingt mit, wie die Gesellschaft Außenseiter behandelt; in diesem Fall die am Rand der Stadt lebenden Obdachlosen, die von der Polizei mit der Gefahr, durch das Monster getötet zu werden, einfach allein gelassen werden. Dass Mulder sich zu ihnen begibt, sie ernst nimmt, und sein Motelzimmer mit einem von ihnen tauscht, kann einen schon nach den ersten vier Episoden nicht mehr überraschen. Die örtliche Polizei scheint diese Obdachlosen genauso wenig als Menschen zu betrachten, wie später die wilde Frau, die ohne Not einfach erschossen wird.
In der Nebenhandlung tut sich Scully etwas schwer mit der Entscheidung, ob sie nun "ein Leben haben" will oder nicht. Für ihren relativ biederen Familien- und Freundeskreis heißt das ganz offensichtlich, Ehemann und Kinder (jedenfalls ist ihre Tätigkeit beim FBI für die Verwandte / Freundin wohl "kein Leben", denn sonst müsste sie ja nicht eines suchen). Scully passt das zwar irgendwie nicht, andererseits möchte sie aber doch dazugehören und lässt sich auf das Date mit diesem Steuerberater ein. Das ist natürlich ein totaler Reinfall.
According to Chris Carter, the reasoning for the scenes in which Scully meets her best friend Ellen and discusses the possibility of dating Mulder was "to show the life she's passing on. I just wanted to open up Scully a little bit for the audience. [...] That was a little bit of experimentation. I wanted people to see that Scully had a feminine side, but also I wanted to play that against Mulder, how she felt about Mulder having his work [....] So it was a little bit of a chance to give the character some dimension. And I think for a lot of women, the 'man's world' is much more interesting than a 'woman's world.'
http://x-files.wikia.com/wiki/The_Jersey_DevilDie Gegenüberstellung der beiden "Verabredungen" zum Essen mit dem Steuerberater und mit Mulder (als der aus dem Gefängnis kommt) ist interessant. Mit Mulder hat sie wieder allen möglichen Ärger, muss sogar das Essen für beide bezahlen, aber langweilig ist ihr da jedenfalls nicht. Die ganze Handlung zeigt ähnlich wie in "Squeeze", dass die junge Scully hier ziemlich zwischen den beiden Welten steht, und außerdem, dass in dieser Familie keiner versteht, wie sie tickt. Ein Date mit dem Steuerberater reichte ihr allerdings, beim nächsten Mal lässt sie ihn abblitzen und geht lieber mit Mulder zum nächsten Experten, einem Ethnobiologen. (Auch hier wieder die Parallele zu "Squeeze", als sie sich von ihrem Kollegen Colton abwendete.)
Mulders Reaktionen zeigen auch eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Haltung in "Squeeze", als Scully sagte, "you were acting very territorial". Er will sie hier an ihrem freien Wochenende für seine Untersuchung vereinnahmen, und als sie das ablehnt, reagiert er passiv-aggressiv. (Notiz am Rande: Die Episode enthält gleich am Anfang auch den meiner Erinnerung nach ersten Hinweis auf Mulders Porno- und Erotikmagazinfetisch.)
"The Jersey Devil" ist sicher eine der schwächeren Episoden der ersten Staffel - die so einige Holprigkeiten hat - trotz eigentlich interessanter Ideen. Ein Teil der Probleme resultiert aus Carters Drehbuch. Carter hat großartige Ideen, aber er ist nicht immer der beste Drehbuchautor, wenn es um die Umsetzung geht. Die Taktung der Episode lässt einiges zu wünschen übrig; manche Szenen haben Längen, während anderes zu kurz abgehandelt wird. Carter hat auch eine Tendenz, seine Figuren zu Sprachrohren seiner eigenen Weltsicht zu machen. Das ist hier besonders in den Szenen mit dem Anthropologieprofessor extrem. Die ganze Unterhaltung wirkt mehr wie eine Vorlesung als wie ein Gespräch, mit Mulder als Stichwortgeber, so dass Diamond seine Theorien über den universellen Mythos des Wilden Mannes ablassen kann. (In eine ähnliche Kategorie fallen die wiederholten Zitate, dass die Menschen sich seit der Steinzeit nicht viel weiter entwickelt haben.) Ein anderes Problem ist die Regie, die es einfach nicht schafft, bspw. in der Konfrontation im Lagerhaus die Gefährdung der Agenten und vor allem Mulders glaubhaft zu machen. Es ist schade, bei dem Thema wäre m.M.n. definitiv mehr drin gewesen. Ich gebe drei abgenagte Oberarmknochen dafür.