So 28. Apr 2019, 22:08
Folge 24, Staffel 4: "Gethsemane / Gethsemane"Drehbuch: Chris Carter
Regie: R. W. GoodwinEin Geologenteam findet in einem kanadischen Gletscher eine Leiche, die vermeintlich außerirdisch ist. Proben aus dem Eis und ein Foto der Leiche werden an einen Wissenschaftler geschickt, der Mulder herbeirufen lässt. Als Mulder sich mit dem Wissenschaftler zusammen aufmacht, um die Leiche zu bergen, finden sie das Geologenteam bis auf ein Teammitglied tot vor. Währenddessen wird Scully, die die Eisproben untersuchen lässt, von einem Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums angegriffen, der später beiden Agenten erzählt, dass alle Hinweise auf die Anwesenheit außerirdischen Lebens auf der Erde Teil einer von der Regierung inszenierten Lügengeschichte sind.
"Believe The Lie" lautet die Tagline von Gethsemane, und sie ist durchaus mehrdeutig, wenn sich auch die Mehrdeutigkeit erst in den kommenden Episoden erschließt.
Zunächst geht es offensichtlich darum, dass Scully vor ein Senatskommittee tritt, und sich anscheinend gegen Mulder gewendet hat. Sie hat am Morgen Mulders Leiche in dessen Wohnung identifiziert und will nun dessen Arbeit als das Resultat einer Lüge entlarven. "Gethsemane" ist der Garten, in dem Jesus am Vorabend seiner Kreuzigung verraten wurde. Scullys Auftritt in der Anhörung - unter dem Vorsitz von Sektionschef Blevins, der sie seinerzeit Mulder zuteilte, um dessen Arbeit zu entlarven - ist bewusst so inszeniert, dass der Eindruck entsteht, Scully habe nun ihren ursprünglichen Auftrag erledigt und erstatte ihren Endbericht, um Mulder posthum zu diskreditieren. "I am here today to expose this lie. To show the mechanism of deception that drew him and me into it. And to expose Agent Mulder’s work for what it is." Zwar weist sie darauf hin, dass sowohl er als auch sie getäuscht wurden, dennoch bleibt der Eindruck, dass sie hier Mulder, der tot ist und sich nicht mehr wehren kann, in den Rücken fällt.
Von Anfang an war die Vermischung von Lügen und Wahrheiten ein zentrales Thema der X-Akten, am besten zum Ausdruck gebracht von Deep Throat in "E.B.E.": "A lie, Mr. Mulder, is most convincingly hidden between two truths." Was der Mitarbeiter des Verteidigungsministerums Kritschgau Mulder und Scully erzählt, bedeutet, dass Mulders Glaube an Aliens und alles, was er und Scully gesehen haben, auf einer Lüge basiert. In Kritschgaus Version ist der militärisch-industrielle Komplex für alles verantwortlich, was mit UFO-Sichtungen und Entführungen zu tun hat. Die vermeintlichen UFOs sind experimentelle Flugzeuge, die Entführungen sind vom Verteidigungsminsterium inszeniert, es werden Cover-Stories erfunden und Falschinformationen verbreitet, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Die UFO-Hysterie kam dabei gerade recht: "The more we denied it, the more people thought it was true: aliens had landed". Das Anliegen der Desinformationskampagne ist es, die hohen Militärausgaben zu rechtfertigen, die die Ökonomie am Laufen halten, und die geheimen Experimente des Verteidigungsministeriums mit Biowaffen und experimentellen Flugzeugen zu vertuschen. Mulder und andere UFO-Gläubige sollten sehen, woran sie gerne glauben wollten, und wurden in Wahrheit dazu missbraucht, um von den Grausamkeiten, die die Regierung beging, abzulenken.
Kritschgaus Geschichte erinnert stark an die Handlung von Darin Morgans Episode "José Chung's 'From Outer Space'", in der ebenfalls die Alien-Geschichten als Deckmantel benutzt wurden, um die Aktivitäten eines außer Kontrolle geratenen militärisch-industriellen Komplexes zu verdecken, und als Aliens verkleidete Air Force-Piloten Teenager entführten. Der angebliche außerirdische Körper, der in "Gethsemane" im Yukon gefunden wurde, ist tatsächlich gefälscht; das Gussloch, von dem Kritschgau spricht ("Frozen into place over the course of a year using sentiment and materials that would bear out its age, poured through a small channel drilled in the rock above"), wurde vom Bergungsteam zu Beginn der Episode entdeckt, das es jedoch nicht zu deuten wusste. Kritschgau selber ist für die Fälschung verantwortlich. Als Grund, weswegen er jetzt auf Mulder zukommt, gibt er an, dass sein Sohn am Golfkrieg-Syndrom erkrankt ist, wofür er das Militär verantwortlich macht und deshalb dessen Lügengebäude aufdecken will.
Ein beträchtlicher Teil der X-Files Fangemeinde hat mit dem Redux-Dreiteiler, dessen Auftakt "Gethsemane" ist, ziemliche Probleme, und so geht es auch mir. Es ist schon recht unplausibel, dass man wegen einer ziemlich kleinen Minderheit, die an UFOs glaubt, einen solchen Aufwand betreibt, um all die Irreführungen zu inszenieren. Kritschgaus Version hört sich zwar auf den ersten Blick realistischer an, ist aber eigentlich nur ein riesiger Anfall von Scully-Syndrom: Es bräuchte neben einem enormen Aufwand an Geld und Ressourcen eine noch komplexere und weitreichendere Verschwörung als die, an die Mulder glaubt, um diese Irreführungen über Jahrzehnte aufrechtzuerhalten. Hinzu kommt, dass für den Zuschauer Kritschgaus Version zu diesem Zeitpunkt der Serie nicht mehr glaubhaft zu machen ist. Man hat beispielsweise die Gespräche zwischen dem Raucher und Jeremiah Smith gesehen, in denen es um die Kolonisierung geht, ebenso deckungsgleiche Versionen über die UN-Resolution 1013 und das Erschießen eines Aliens von Deep Throat und dem Raucher gehört. Anders als in "Paper Hearts", als Mulder Glauben gemacht werden sollte, Samantha sei von einem Serienkiller entführt worden, funktioniert in "Gethsemane" nicht nur die externe Logik im Hinblick auf die Zuschauer, sondern auch die interne Logik im Hinblick auf die Charaktere nicht. Selbst wenn man die genannten Beispiele außer Acht lässt, weil Mulder und Scully nicht Zeuge waren, haben die Agenten beispielsweise den außerirdischen Gestaltwandler und die Alien-Mensch-Hybriden gesehen, die m.E. durch Kritschgaus Version unmöglich zu erklären sind. Dass vor allem Mulder ihm das nicht entgegenhält, ist für mich nicht nachvollziehbar.
Womit wir bei Mulder wären. Auch Mulders Selbstmordabsichten sind nicht glaubhaft für mich. Vor allem, dass er vehement den Wahrheitsgehalt von Kritschgaus Version bestreitet (ohne ihm mit schlagkräftigen Argumenten entgegenzutreten; "after all I've seen", ohne das näher auszuführen, ist als Argument wenig zwingend), dann aber augenblicklich umfällt, als Scully ihm sagt, "he said [they] gave me this disease to make you believe." Warum glaubt er diesen Teil, wenn er alles andere, was Kritschgau sagt, in Zweifel zieht? Selbst wenn er das glaubt - wäre seine Reaktion nicht eher, diese Leute zu stellen und noch vehementer nach einem Heilmittel zu suchen, als sich umzubringen, was nun wirklich keinem etwas nützt und eigentlich auch sonst nicht seinem Charakter entspricht? Es gibt Theorien, dass die Behandlung, der er sich in "Demons" unterzogen hatte, hier noch Nachwirkungen hatte. Das wäre zumindest eine Erklärung, die sein Verhalten einigermaßen nachvollziehbar macht; vollends überzeugend finde ich sie aber auch nicht.
Etwas ärgerlich fand ich wieder einmal Scullys Familie. Vor allem ihr Bruder Bill ist ein Unsympath, wie er im Bilderbuch steht - er erinnert sich selbst alle Jubeljahre an den Geburtstag seiner Schwester, macht aber Mulder Vorwürfe, weil Scully bei ihrer Arbeit in Gefahr gekommen ist. Vollends unmöglich fand ich, dass er Scully auf ihre Verantwortung gegenüber ihrer Mutter hinweist. Eigentlich sollte es Scully sein, die hier im Vordergrund stehen sollte, und nicht die Mutter, von der ich schon in "Memento Mori" den Eindruck hatte, dass es ihr vor allem um sich selber geht. Auch die Mutter ist wieder unmöglich intervenierend; es sollte Scullys Sache sein, wem sie von ihrer Krankheit erzählt und ob sie sich einem Pfarrer zuwenden will oder nicht.
Ich will jetzt nicht allzu negativ sein; es ist nicht alles schlecht an "Gethsemane". In Sachen Ästhetik hat sich Akte X mit den Bildern im Yukon selbst übertroffen; sie sehen aus wie aus einem Kinofilm. Auch die Aufnahmen vom vermeintlichen Alien waren gut gemacht. Gillian Andersons schauspielerische Leistung war wieder einmal beeindruckend. Ignoriert man die logischen Probleme der Handlung, so ist die Episode auch durchaus spannend. Was mir auch gut gefallen hat waren die Meditationen über Glauben, Wissen und Wissenschaft. Auch wie mit der Anhörung der Bezug zum Pilotfilm hergestellt wurde, fand ich gelungen. Insgesamt aber finde ich "Gethsemane" eines der schwächsten Staffelfinale. Ich gebe knapp vier Eisproben dafür.