Folge 5, Staffel 5: "Der Große Mutato / The Post-Modern Prometheus"Drehbuch: Chris Carter
Regie: Chris CarterMulder wird von einer Frau herbeigerufen, die behauptet, des Nachts von einem gräßlich entstellten Monster heimgesucht worden und daraufhin schwanger geworden zu sein, obwohl sie sich hat sterilisieren lassen. Sie erzählt, bereits vor 18 Jahren sei ihr Ähnliches widerfahren, woraufhin ihr Sohn zur Welt gekommen sei. Scully hält die Frau für eine Schwindlerin; ein von ihrem Sohn gezeichnetes Comic über ein Monster, das der Beschreibung entspricht, scheint dies zu bestätigen. Bei einer nächtlichen Suche ereignen sich jedoch merkwürdige Dinge, und die Agenten machen die Bekanntschaft eines Wissenschaftlers, der geheime genetische Experimente durchführt.
"The Post-Modern Prometheus" ist Chris Carters Hommage an seinen Lieblingsroman "Frankenstein" inklusive seiner ersten Verfilmung durch John Whale (1931) und eine der originellsten und experimentellsten Akte X-Folgen überhaupt. Ganz in schwarz-weiß gedreht und nach dem Untertitel von Mary Shelleys Roman "Frankenstein - The Modern Prometheus" benannt, öffnet und schließt die Episode mit dem Cover eines Comic-Books, und verdeutlicht so gleich zu Beginn, dass sie keine "normale" Akte-X-Folge, sondern eine Art Meta-Fiction ist. Ähnliche Ansätze gab es schon früher, mit Episoden, die die Technik des verrückten bzw. unzuverlässigen Erzählers verwendeten ("José Chung's 'From Outer Space'", "Musings of a Cigarette Smoking Man", und zuletzt "Unusual Suspects"). Anders als in diesen Folgen lässt "The Post-Modern Prometheus" aber keine Fragen offen, wieviel von der Geschichte der Wahrheit entspricht, sondern es ist klar, dass es quasi die Verfilmung eines Comics über einen Akte X-Fall ist.
Mulder und Scully wurden in eine Kleinstadt gerufen (anders als sonst in Akte X wird kein Ort angegeben, es heißt im ersten Bild des Comics "somewhere in the land, a monster lurked"); eine Frau, Shaineh Berkowitz, hat in ihrem Haus mitten in der Nacht eine Art Monster gesehen, wurde ohnmächtig, und als sie drei Tage später zu sich kam, stellte sich heraus, dass sie schwanger ist. Wie Mrs Berkowitz erzählt, ist ihr dasselbe vor 18 Jahren schon einmal passiert, das Resultat war ihr Sohn Izzy, der Autor des Comics "The Great Mutato" ist. Eigentlich sollte Mrs Berkowitz gar nicht in der Lage sein, Kinder zu bekommen, denn nach der Geburt von Izzy hat sie sich sterilisieren lassen. Im Zimmer von Izzy findet Scully das Comic-Book mit der von Izzy geschaffenen Figur des "Great Mutato", der genauso aussieht, wie der Eindringling, den seine Mutter beschreibt. Izzy besteht darauf, dass das Monster wirklich existiert und des Nachts in dem kleinen Ort sein Unwesen treibt. Als sich die Agenten zusammen mit Izzy in der Nacht auf die Suche machen, begegnen sie einem alten Mann, der ihnen sagt, es gäbe kein Monster, außer einem Wissenschaftler, der Dr. Pollidori heißt.
Dr. Pollidori, der hier quasi die Rolle des Victor Frankenstein innehat, ist der klassische verrückte Wissenschaftler, dem seine Arbeit über seine Familie geht und der als Nobelpreisträger in die Geschichte eingehen will. Er führt genetische Experimente an Fruchtfliegen durch, wobei er eine Gruppe von Genen, die für die Entwicklung verantwortlich sind (die sog. homöotischen Hox-Gene) derart manipuliert, dass beispielsweise einer Fliege ein zusätzliches Paar Beine aus dem Mund wächst. Als Mulder ihn fragt, warum er das tut, antwortet Pollidori, "because I can." Auf die Frage, ob solche Experimente auch an Menschen möglich seien, antwortet er, dies sei theoretisch möglich, würde aber gegen wissenschaftliche Grundsätze verstoßen. Es stellt sich jedoch heraus, dass Pollidori jedoch genau das getan hat, und der Mutato ist das Ergebnis eines solchen Experiments.
Pollidori bezeichnet den Mutato als einen großen Fehler, sein Vater jedoch, der alte Bauer, dem die Agenten zuvor begegnet sind, nahm den von Pollidori verstoßenen Mutato in seine Obhut, zog ihn im Verborgenen liebevoll auf, und als der Mutato älter und immer einsamer wurde, versuchte er, für ihn eine Gefährtin zu erschaffen. Er ahmte die Experimente Pollidoris nach und versuchte, mit Hilfe von Keimzellen seiner Farmtiere, die er den Frauen in der Stadt einpflanzte, Hybriden zu erschaffen. Die Experimente scheiterten; es entstand kein zweiter Mutato oder eine weibliche Mutato, sondern statt dessen Kinder, die Hühnern, Pferden, Ziegen etc. ähnlich sahen (dass dies die Gemeindebewohner sind, wird nicht ausgesprochen, sondern nur mit Bildern impliziert). Als Pollidori dahinter kommt, was sein Vater tut, tötet er ihn und man sieht einen weinenden Mutato den alten Mann begraben. Des Mordes verdächtigt wird nicht Pollidori, sondern der Mutato, der dann vor die aufgebrachte Gemeinde tritt, die ihn lynchen will, um seine Geschichte zu erzählen.
Wie auch sein Vorbild, Frankensteins Kreatur, ist der "Große Mutato" nur äußerlich ein Monster, in seinem Inneren jedoch ein sensibles und intelligentes Wesen. Er liebt Erdnussbutter-Sandwiches und bildet sich - auch hier die Parallele zu Frankensteins Kreatur - durch Bücher, Schallplatten und andere Medien weiter, die er in den Häusern der Opfer seines Großvaters findet. Wegen ihrer Rolle im Film "The Mask", in dem sie eine liebevolle Mutter eines entstellten Jungen spielt, wird der Mutato zu einem Fan von Cher, zu deren Musik man ihn tanzen sieht.
Die Geschichte endet damit, dass Dr Pollidori für den Mord an seinem Vater verhaftet wird und ebenso der sich schuldig bekennende Mutato für Komplizenschaft in den Verbrechen des ermordeten alten Bauers, der im Versuch, für den Mutato eine Gefährtin zu erschaffen, unzählige Frauen in der Nacht überfiel und künstlich mit seinen Hybridenexperimenten schwängerte. Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert.
Mulder, und damit begibt sich die Episode in ihrem vielleicht originellsten Twist wieder auf die Ebene der Meta-Fiction, passt dieses Ende überhaupt nicht: "This is all wrong, Scully. This is not how the story is supposed to end." - "What do you mean? " - "Dr. Frankenstein pays for his evil ambitions, yes. But the monster’s supposed to escape to go search for his bride." Scully sagt ihm, in dieser Geschichte werde es kein Braut für das Monster geben. Mulder will das nicht hinnehmen: "Well, where’s the writer? I want to speak to the writer!" Und der Autor Izzy tritt durch die Tür. Die Episode verlässt an dieser Stelle ihre eigene fiktive Realität und ersetzt sie durch eine, die von Izzy auf Mulders Verlangen umgeschrieben wurde: Mulder und Scully fahren den Mutato nicht ins Gefängnis, sondern besuchen mit ihm und den anderen Gemeindemitgliedern ein Konzert mit Cher, wo man den Mutato mit Cher und Mulder mit Scully tanzen sieht. Ein Happy-End, mit dem Nachteil, dass nichts von dem, was die Episode nach Mulders Forderung nach einem anderen Ende der Geschichte zeigt, in der fiktiven Realität wirklich passiert. Mulder und Scully werden zu einem Comic-Bild, bevor das Comic-Book wieder zugeklappt wird.
Man könnte über diese Episode endlos philosophieren, über tatsächliche und fiktive Realitäten und Meta-Realitäten innerhalb derselben, und über Mulders Wunsch, die Realität umzuschreiben (passend dazu das Zitat früher in der Episode: "Common sense alone will tell you that these legends, these unverified rumors are ridiculous." - "But nonetheless, unverifiable, and therefore true in the sense that they’re believed to be true." - "Is there anything that you don’t believe in, Mulder?"). Es kann nur Mulder sein, der diesen Wunsch äußert, die tatsächlichen Geschehnisse mögen umgeschrieben werden, weil die Realität so nicht geschehen soll. Man kann mutmaßen, wie oft die Figur Mulder seinem Schöpfer Carter mit derartigen Wünschen, die Geschichte doch umzuschreiben, in Gedanken oder Träumen erschienen ist. Oder ob Mulder, der Außenseiter, der ähnlich einsam war wie das Monster, bis Scully in sein Leben trat, Parallelen zwischen sich und dem Monster sieht und ihm deshalb so sehnlich eine Gefährtin wünscht. Die Episode versäumt auch nicht, den Kontakt zur Mythologie der Serie zu halten - mit künstlich erzeugten Hybriden, fehlgeschlagenen Experimenten, unfruchtbaren Frauen, die trotzdem schwanger werden und merkwürdige Babies zu Welt bringen und fragen: "What's not to love?"
Was die Inszenierung angeht, ist "The Post-Modern Prometheus" eine höchst kreative und - für eine Prime Time TV-Show - auch mutige Episode, die Referenzen zum Vorbild "Frankenstein" und anderen klassischen Horrorfilmen mit solchen zu Comics auf originelle Weise verschmilzt. Nicht nur im Hinblick auf die Inszenierung in Schwarz-Weiß lehnt sich die Optik an klassische Horrorfilme an; immer wieder gibt es Unwetter mit viel Donner und Blitz, teilweise bis zum Komödiantischen überzeichnet (auch hier wieder die Anklänge an ein Comic-Book) und selbst der Ton scheint an Filme aus den 30ern angelehnt. Referenzen zu anderen Akte-X-Regisseuren gibt es auch: Der Teaser erinnert stark an die Eingangssequenz der Staffel 4-Episode "Home". Es gibt auch über die eigentliche Handlung hinausgehend in Details
unzählige Referenzen sowohl an "Frankenstein" als auch andere Horrorfilme; so ist beispielsweise Dr. Pollidori nach dem Leibarzt von Lord Byron benannt, der Mary Shelleys Autorenzirkel angehörte und seine Frau Elizabeth nach der gleichnamigen Frau Victor Frankensteins. Ebenso wie Frankenstein fährt Pollidori zu einer Konferenz an die Universität Ingolstadt; auch in bestimmten Szenen zeigen sich Ähnlichkeiten und werden bekannte Momente aus John Whales Film zitiert. Mulders "It's alive!" und der mit Fackeln ausgestattete, aufgebrachte Mob, der den Mutato verfolgt, sind dabei nur die Offensichtlichsten.
Es gibt eine Reihe weiterer großartig inszenierter Szenen, so der Mord an dem alten Mann und sein Begräbnis, die Offenbarung des Mutato gegenüber der aufgebrachten Gemeinde, und natürlich am Ende das Konzert mit Cher (die leider nicht persönlich an der Episode teilnahm, was die Sängerin den Produktionsnotizen zufolge später sehr bereute). Die verschiedentlich zu lesende Kritik, die Charaktere, insbesondere Pollidori und die Stadtbewohner, seien eindimensional und ähnelten Karikaturen, geht m.E. völlig an der Sache vorbei, da ein wesentliches Element der Folge gerade darin besteht, dass sie ein verfilmter Comic ist. Die Charaktere wirken nicht wie Leute aus dem Jahr 1995, sondern erinnern in Kleidung, Frisur und Auftreten eher an Menschen aus den 1950er, vielleicht sogar 1930er Jahren. Auch musikalisch ist "The Post-Modern Prometheus" außergewöhnlich gut gelungen. Ob es das karnevalesk-klingende Hauptthema im Walzertakt ist, die melancholische Musik vor dem Tod des alten Mannes und als der Mutato seine Leiche findet und begräbt, oder die an passenden Stellen eingestreuten Songs von Cher, Mark Snows Kompositionen sind ebenso originell wie die Inszenierung der Episode selbst, treffen deren Ton perfekt und sorgen für eine unverwechselbare Atmosphäre.
"The Post-Modern Prometheus" wurde für sieben Emmys nominiert, darunter für das Drehbuch und die Regie. Aber nicht nur Chris Carter, der in dieser Episode für beides verantwortlich zeichnet, sondern das gesamte Team haben sich hier selbst übertroffen und eine unvergessliche Episode geschaffen. Für mich ist "The Post-Modern Prometheus" ein Top-Kandidat für die beste Akte X-Episode überhaupt. Ich vergebe sieben von sechs Erdnussbutter-Sandwiches dafür.