Re: Akte X - Staffel 5 und Akte X - Der Film / Fight The Future




Alles zu Chris Carters Mystery-Serien Akte X, MillenniuM und The Lone Gunmen

Re: Akte X - Staffel 5

Beitragvon nevermore » Di 28. Mai 2019, 20:27

Folge 10, Staffel 5: "Ein Spiel / Chinga"

Drehbuch: Stephen King & Chris Carter
Regie: Kim Manners



Scully befindet sich eigentlich im Urlaub in Maine, als sie beim Besuch eines Supermarkts mitten in eine Horrorszenerie gerät: Die Kunden verletzen sich selbst, kratzen sich die Augen aus, einer hat sich sogar selbst erstochen. Die Ortsansässigen geben einer alleinerziehenden Mutter die Schuld, die sie für eine Hexe halten. Scully hat jedoch bald die Puppe ihrer kleinen Tochter im Visier.

"Chinga" ist die berühmte "Stephen King"-Episode, der hier die Originalfassung des Drehbuchs schrieb. Wie es heißt, wurde die Episode teilweise von Chris Carter umgeschrieben, weil er mit den Mulder / Scully-Interaktionen unzufrieden war. Der Hype um diese Episode war gigantisch, und gemessen daran ist das Ergebnis leider recht enttäuschend ausgefallen. Ein paar Ausschnitte aus dem ursprünglichen Skript, die geändert wurden, sind hier nachzulesen; irgendwo soll angeblich auch der komplette Skript herumschwirren, ich konnte ihn allerdings bisher nicht finden.

Die Prämisse von "Chinga" ist gewissermaßen ein Spiegelbild von "War of the Coprophages"; es ist hier Scully, die eigentlich außer Dienst und allein unterwegs ist, unfreiwillig in eine X-Akte hineinstolpert und Mulder ist derjenige, der telefonisch mehr oder weniger hilfreiche Hinweise liefert. Ein Fischer hat vor etwa einem Jahr eine sprechende Puppe aus dem Meer gefischt und sie seiner kleinen Tochter Polly gebracht. Drei Tage später starb der Vater bei einem Unfall, und seither widerfahren allen, die etwas tun, was Polly nicht gefällt, schlimme Dinge. Im Supermarkt ist Polly gelangweilt und genervt, ihrer Mutter Melissa schwant schon Schlimmes, und alsbald beginnen die Kunden durchzudrehen, sich selbst zu verletzen und das Geschäft zu verwüsten, ein Mitarbeiter ersticht sich sogar mit einem Fleischermesser - das ist die Szenerie, die Scully vorfindet, als sie den Supermarkt betritt. Melissa, die ständig Visionen hat, wer als nächstes sterben wird, wird von den Gemeindebewohnern verdächtigt, eine Hexe zu sein; was die Frauen angeht, ist hier sicherlich auch Eifersucht im Spiel, da der hübschen alleinstehenden Mutter so einige Männer nachstellen, darunter auch der Metzger aus dem Supermarkt, der sich erstochen hat. Es geschehen weitere Unfälle, eine frühere Lehrerin von Polly stirbt. Scully befragt einen alten Fischer, der in der Nacht auf dem Boot war, auf dem Pollys Vater zu Tode kam - die Befragung lenkt ihren Verdacht schließlich auf die Puppe.

"Chinga" ist eine der wenigen reinrassigen Horrorstories in Akte X, mit einigen Elementen, die klar Stephen Kings Handschrift aufweisen. Da ist zum einen der Tatort Maine, Kings Heimatstaat, in dem die meisten seiner Geschichten spielen. Die zu Unrecht als Hexe verdächtigte Melissa könnte ebenso wie ihre autistische Tochter, die alte Lehrerin, der Sheriff und andere Charaktere aus einem King-Roman stammen. Auch die Teaser-Szene, mit den Verwüstungen und den Selbstverletzungen im Supermarkt, und die grotesken Todesfälle sind typisch für King. Die mörderische Puppe ist offensichtlich vom 1988er Film "Chucky – Die Mörderpuppe" inspiriert - Chucky wird von Mulder auch explizit erwähnt. Immer wenn etwas Schlimmes bevorsteht, öffnet die Puppe die Augen und sagt "Let's have fun!" oder "I want to play!", und das Lied "The Hokey Pokey", abgespielt auf einem billigen Schallplattenspieler, ist in "Chinga" omnipräsent.

Böse Puppen und außer Kontrolle geratene Kinder sind ein Standard-Horrorelement und spielen mit Urängsten von Eltern, ihres Nachwuchses nicht mehr Herr zu werden. Polly ist angeblich autistisch, und wirkt zu keinem Zeitpunkt irgendwie sympathisch, sondern - abgesehen von der Szene im Showdown, als sie allmählich begreift, was sie anrichtet - regelrecht boshaft auf mich. Ein interessanter Charakter ist sie nicht; die Episode lädt nicht ein, sich zu fragen, was eigentlich in ihr vorgeht. Ihr Autismus wird einmal nebenbei erwähnt, spielt aber darüberhinaus keine Rolle in der Episode. Polly ist letztlich lediglich ein ziemlich stereotyper Antagonist. Melissa hat offenkundig Angst vor Polly, auch wenn das eigentliche Monster die Puppe ist. "Please, don't do this to Mommy," fleht sie ihre Tochter schon am Anfang der Episode geradezu an, und auch später scheint sie überhaupt keinen Zugang zu Polly zu haben. Ich habe mich öfter gefragt, warum sie nicht endlich versucht, diese Puppe loszuwerden, oder sich Polly gegenüber durchzusetzen, oder zumindest nicht jegliche Hilfe, die ihr Buddy anbietet, abzulehnen. Insgesamt fand ich die Charaktere allesamt recht zweidimensional, selbst Melissa.

Die ganze Geschichte um Polly, die Puppe und Melissa besteht letztlich aus ein paar ziemlich lieblos zusammengeworfenen Horrorelementen, ohne dass es eine wirkliche Story gibt. Weder erfährt man irgendetwas über die Puppe und ihre Hintergründe, noch wird Melissas angeblichen Hexen-Vorfahren nachgegangen, oder Pollys Autismus, geschweige denn, dass es irgendeine unterliegende Thematik oder Botschaft gäbe - jedenfalls keine, die für mich ersichtlich wäre. Selbst der Showdown - Scully verlangt nachdrücklich von Polly, endlich die Puppe herzugeben, und verbrennt diese dann in der Mikrowelle - ist reichlich einfallslos; verlangt er von Scully doch keinerlei investigative oder sonstige Fähigkeiten, sondern nur ein bisschen Durchsetzungsvermögen, das Melissa eigentlich längst hätte zeigen müssen. Natürlich darf auch das genre-typische Ende nicht fehlen, als ein anderer Fischer die verbrannte Puppe aus dem Meer fischt (es ist völlig unersichtlich, wie sie dahin gekommen ist).

Was die Episode noch einigermaßen rettet, sind die Mulder-und-Scully-Szenen, die "Chinga" den nötigen Humor verleihen. Die Vorstellung, dass Mulder ohne Scully nicht weiß, was er mit seiner Zeit im Büro anfangen soll, ist zwar ein wenig abwegig, angesichts dessen, wie oft er sonst in Sachen X-Akten Alleingänge unternimmt. Amüsant anzusehen ist es dennoch; all die charakteristischen Eigenheiten kommen hier zur Geltung, Mulders Pornofetisch, seine Obsession mit Basketball, und in "Chinga" wird auch seine Angewohnheit, bei Langeweile gespitzte Bleistifte in die Decke zu werfen, eingeführt. Die Bereitschaft Scullys, sich bei ihrer Untersuchung "extremen Möglichkeiten" zu öffnen und zur Gläubigen ans Paranormale zu werden, kam für meinen Geschmack ein wenig zu abrupt und unmotiviert.

Was die Inszenierung angeht, ist der Teaser sehr gut gelungen, und auch sonst sind die einschlägigen Horrorszenen gut inszeniert. Lustig fand ich neben den Mulder-Szenen auch Scully im Schaumbad und den gigantischen Hummer im Restaurant. Die Visionen Melissas hingegen sind für meinen Geschmack zu cartoon-artig ausgefallen und "The Hokey Pokey" ging mir nach einiger Zeit doch extrem auf den Nerv. Insgesamt fand ich "Chinga" - vor allem gemessen an den Erwartungen, die eine Stephen King-Episode unvermeidlich weckt - aber ziemlich enttäuschend. Ich gebe gerade noch drei "The Hokey Pokey"-Schallplatten dafür.
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Re: Akte X - Staffel 5

Beitragvon nevermore » Mi 29. Mai 2019, 22:25

Folge 11, Staffel 5: "Kill Switch / Kill Switch"

Drehbuch: William Gibson & Tom Maddox
Regie: Rob Bowman



In einem Diner in Washington kommt es zu einer Schießerei, dabei kommt auch ein berühmter, seit mehr als 10 Jahren als vermisst geltender Computer-Spezialist ums Leben. Sein sichergestellter Laptop führt Mulder und Scully zu einer mit dem Opfer befreundeten Hackerin. Diese behauptet, mit dem Opfer und einem weiteren Computer-Fachmann an der Erschaffung einer künstlichen Intelligenz gearbeitet zu haben, die sich verselbstständigt hat und in die Weiten des Cyberspace geflohen ist. Der erschossene Hacker hat ein Programm geschrieben, um die abtrünnige KI zu vernichten - diese schlägt nun zurück, um sich selbst zu schützen.

"Kill Switch" ist eine weitere Episode, deren Drehbuch von einem berühmten Autor stammt, in diesem Fall William Gibson, vor allem bekannt als Verfasser der "Neuromancer"-Trilogie. Es ist die zweite Episode nach "Ghost in the Machine" in Staffel 1, die sich mit künstlichen Intelligenzen befasst. Die Prämisse einer Bewusstsein und Absicht entwickelnden Intelligenz, die dann aus Selbstschutz zu morden beginnt, erinnert an das aus den "Terminator"-Filmen bekannte Skynet. Der Progammierer Donald Gelman hat zusammen mit den Hackern Esther Nairn (aka Invisigoth) und David Markham eine künstliche Intelligenz entwickelt, die bald nicht nur Bewusstsein, sondern auch planvolles Handeln erkennen ließ und sich aus der Kontrolle der Programmierer befreite. Dies und die Pläne Nairns und Markhams, ihr eigenes Bewusstsein in die KI hochzuladen, führten dazu, dass Gelham Angst vor seiner eigenen Schöpfung bekam und sie vernichten wollte. Er schrieb ein Virus, den sog. "Kill Switch", das die KI vernichten sollte, und speicherte es auf einer CD. Die KI ist nun hinter jenen her, die im Besitz des "Kill Switch" sind, um sie zu töten, und hinter dem Virus selbst, um sich gegen es zu immunisieren. Das erste Opfer ist Gelman selbst, der dem von der KI in den Diner geschickten Gruppe von Dealern in einer Schießerei zum Opfer fällt. Mit Hilfe der Lone Gunmen machen Mulder und Scully erst Nairn und dann die Hardware-Basis der KI ausfindig, wo sie schließlich auch Markham finden; es kommt zu einem Showdown in einer virtuellen Realität und schließlich wird die Hardware-Basis vernichtet, aber nicht, bevor Nairn ihr Bewusstsein in die KI hochgeladen hat, um sich dort mit Markham zu vereinen, dem das schon zuvor gelungen ist.

Vielleicht sollte man das mit den Promi-Autoren in Akte X einfach lassen, denn m.E. ist "Kill Switch" nach "Chinga" die zweite Episode, die ziemlich verunglückt ist. Akte X tut sich generell schwer mit Geschichten, die der Science Fiction zuzurechnen sind, wie die Beispiele von "Space" und "Ghost in the Machine" aus Staffel 1 und "Soft Light" aus Staffel 2 schon zeigten. In Reviews kommt "Kill Switch" gemessen daran verhältnismäßig gut weg; den Grund dafür verstehe ich ehrlich gesagt nicht. Es beginnt schon damit, dass "Kill Switch" (ähnlich wie "Ghost in the Machine" und "Space") einfach keine X-Akte ist und mir deshalb nicht klar ist, weswegen Mulder und Scully überhaupt in dem Fall ermitteln. Bei den beiden Staffel 1-Episoden machte man sich zumindest noch die Mühe, zu erklären, von wem und weshalb sie kontaktiert wurden, hier dagegen wirft man sie einfach in die Szenerie.

"Kill Switch" thematisiert zwei interessante Ideen im Zusammenhang mit dem Cyberspace: Einerseits die Vorstellung einer KI, die eigenes Bewusstsein und planvolles Handeln entwickelt, und die aus Selbstschutz angesichts ihrer drohenden Zerstörung agiert; andererseits die Idee, das Bewusstsein eines Menschen in den Cyberspace hochzuladen und ihn auf diese Weise sozusagen unsterblich zu machen. Hier könnte man alle möglichen philosophischen Betrachtungen anstellen: Was "Leben" eigentlich ist; inwiefern eine KI ein Recht auf Leben und Selbstverteidigung aus Notwehr hat; wie es einem Programmierer geht, der seine Schöpfung zerstören muss und wie das Verhältnis zwischen den beiden aussieht. Leider wird nichts von dem in "Kill Switch" nennenswert thematisiert. Auch die interessante Frage, was man sich unter dem Cyberspace als Lebensraum für eine KI eigentlich vorzustellen hat ("Urschleim in silicon [...] The primordial slime? The ooze out of which all life evolved. Except this time it's artificial slime - artificial life") wird in einem Satz abgehandelt. Der Konflikt zwischen der KI und ihrem Programmierer hätte gut in die Reihe von Staffel 5-Episoden gepasst, die sich mit Eltern-Kind-Problemen befassen (angefangen vom "Emily"-Zweiteiler über "Schizogeny" bis hin zu "Chinga"), aber auch diese Chance wurde vertan - dieses Thema wurde sogar in "Ghost in the Machine" noch besser dargestellt.

Statt dessen wird in "Kill Switch" ein enormer Aufwand betrieben, um die nahezu allmächtigen Fähigkeiten der KI zu demonstrieren, die teilweise völlig abwegig sind. Nicht nur kann sie Weltraum-Plattformen des Verteidigungsministeriums kontrollieren und damit ihre Verfolger gezielt auslöschen, sie kann auch jedermann zu jeder Zeit über das Telefonnetz ausfindig machen und schafft so das unwahrscheinliche Kunststück, mit allen möglichen Tricks die Dealer in den Diner zu locken und Gelham umzubringen. Zu allem Überfluss - und spätestens hier wird es abstrus - ist sie auch noch in der Lage, sich selbst eine Hardware-Basis in einem verlassenen Farmhaus und später in einem Wohnwagen zu bauen. Wie die Gerätschaften dahin gekommen sind, wer sie zusammengebaut und zum Funktionieren gebracht hat, wer das alles wartet und am Laufen hält, und warum dies - vor allem der mitten in einem Wohnwagenpark stehende Wohnwagen - nie jemandem aufgefallen ist und zu Nachfragen Anlass gegeben hat, bleibt völlig unerklärlich. Eine Menge Zeit wird auch für eher albern als lustig wirkende Szenen mit einem von Krankenschwestern, die aussehen wie aus einem Pornofilm, umringten Mulder und einer kickboxenden Scully in der Virtual Reality verwendet.

Womit wir bei den Charakteren wären. Esther Nairn alias Invisigoth ist ein wenig zu sehr das 90er Jahre Stereotyp der Hackerfrau, mit ihrem Make-up und ihrer kratzbürstigen Art. Amüsant war die schwärmerische, geradezu anbetungsvolle Reaktion der Lone Gunmen auf sie. Was Scully angeht, muss man sich langsam fragen, ob sie eigentlich generell ein Problem mit Frauen hat, die ihr intellektuell ebenbürtig oder gar überlegen sind. Zum wiederholten Mal hat es hier den Anschein, dass sie eine solche Frau als Rivalin sieht und mit geradezu kindischer Eifersucht (ob professioneller oder persönlicher Art, ist nicht klar) reagiert. Ihr völlig irrationales Verhalten zu Beginn in Invisigoths Container hätte beinahe alle drei (Nairn, Mulder und Scully selbst) das Leben gekostet - was hielt sie davon ab, zumindest einmal auf den Computerbildschirm zu sehen? Womöglich das beste Element von "Kill Switch" war die Entwicklung der Beziehung der beiden Frauen, als Nairn den zerstörten Wohnsitz von Markham findet, emotional zusammenbricht und Scully sich ihr gegenüber öffnet - und die beiden Frauen dann beginnen, zusammenzuarbeiten. Diese Szenen waren auch von beiden Darstellerinnen überzeugend gespielt.

Insgesamt aber ist "Kill Switch" eine noch größere Enttäuschung als "Chinga". Auch ein paar gut inszenierte Szenen, beispielsweise der Teaser, die Explosion von Invisigoths Container und später des Farmhauses sowie der Angriff auf Esther auf der Brücke, könnten darüber nicht hinwegtäuschen. Mit paranormalen Phänomenen hat der Fall ebenso wenig zu tun wie "Ghost in the Machine", und ich kann mich den verschiedentlich zu lesenden Einschätzungen, "Kill Switch" sei weitaus besser als die Staffel 1-Episode, nicht anschließen. Die Episode wirkt vielleicht weniger veraltet, was ihrer Entstehung fünf Jahre später zu verdanken ist. Aber "Kill Switch" trifft den Ton von Akte X noch weitaus schlechter als "Ghost in the Machine", sie hat noch mehr Logiklöcher, die zentralen Ideen sind noch unterentwickelter und ein Bezug zur Mythologie existiert nicht einmal im Ansatz. Die Episode ist einfach ein Fremdkörper im Akte X-Universum, und verdankt m.E. die relativ guten Reviews einzig dem prominenten Gastautor und der hochwertigen Produktion (anscheinend war es die teuerste Episode bis dato). Hinzu kommt die ganze Effekthascherei um die allmächtige KI und die Szenen in der virtuellen Realität, was auf Kosten der eigentlich interessanten Themen der Folge geht. Mich konnte "Kill Switch" nicht überzeugen, ich vergebe knappe drei "Twilight Time"-CDs dafür.
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Re: Akte X - Staffel 5

Beitragvon nevermore » Fr 31. Mai 2019, 19:39

Folge 12, Staffel 5: "Böses Blut / Bad Blood"

Drehbuch: Vince Gilligan
Regie: Cliff Bole



In Texas wurden sechs Kühe und ein Urlauber ausgeblutet und mit charakteristischen Bisswunden aufgefunden. Mulder glaubt, dass ein Vampir am Werk war; Scully hält aufgrund von Autopsieergebnissen einen Pizzaboten für den Täter. Als der Bote bald darauf Mulder attackiert, verfolgt dieser ihn in den Wald und tötet ihn nach bewährter Vampirjäger-Manier: Er sticht ihn mit einem Holzpfahl ins Herz. Da sich die Fangzähne des Pizzaboten als falsch erweisen, muss sich Mulder nun vor Skinner verantworten.

"Bad Blood" ist nach der missratenen Staffel 2-Episode "3" der zweite Versuch von Akte X, sich dem Thema Vampire zu nähern. Diesmal wird das Thema jedoch völlig anders angegangen: "Bad Blood" ist in erster Linie eine Comedy-Episode und bedient sich einer außergewöhnlichen Erzählstruktur, indem sie zunächst Scully und dann Mulder die Geschichte erzählen lässt. Das Amüsante daran sind nicht nur die teils divergierenden Schilderungen der Geschehnisse, sondern vor allem auch, wie sich die beiden Protagonisten selber und den jeweils anderen sehen. Der Kern der Geschichte bis zur Verfolgung und Pfählung des Pizzaboten - die im Teaser gezeigt werden - ist schnell erzählt: In dem kleinen Ort in Texas wurden erst mehrere Kühe und dann ein Tourist ausgeblutet und mit Bisswunden tot aufgefunden, Mulder und Scully treffen sich am Tatort mit dem Sheriff. Mulder sucht mit dem Sheriff auf dem Friedhof nach Beweisen, dass es sich bei dem Täter um einen Vampir handelt, ein weiterer Urlauber wird getötet, und Scully führt Autopsien durch und kommt aufgrund der Mageninhalte zu dem Schluss, dass der Täter der junge Pizzabote Ronnie ist. Von eben diesem wird Mulder im Motel attackiert, Scully kommt gerade noch rechtzeitig dazwischen, und Mulder verfolgt Ronnie bis in den Wald, wo er ihn pfählt. Als Scully die beiden einholt, und Mulder ihr die Vampirfänge zeigen will, stellt sich heraus, dass diese Plastikattrappen sind.

Die beiden Agenten sind nun in einer misslichen Lage; Mulder muss eine Mordanklage befürchten und Ronnies Familie will das FBI auf $446 Millionen Schadenersatz verklagen. Scully befürchtet, dass auch sie mit beschuldigt wird. In einer Stunde will Skinner einen Bericht hören, und Mulder will von Scully wissen, was aus ihrer Sicht geschehen ist.

Scullys Schilderung zeichnet Mulder als einen überdrehten Fanatiker, was ihr auf die Nerven geht, während sie selber nur ihre Pflicht erfüllen will. Sheriff Hartwell ist ein interessanter, aufmerksamer Mann, während sich ihr Partner unhöflich und oberlehrerhaft verhält und sich kaum an ihren Namen erinnert. Ihr macht es Spaß, die Gelegenheit für einen kleinen Flirt zu nutzen, worauf Mulder genervt reagiert. Während Mulder seinen Spaß mit der Untersuchung hat, muss sie langweilige Autopsien durchführen, mit denen er sie nicht einmal spät Abends nach einen langen Arbeitstag in Ruhe lässt. Sie - so ihre Sicht - tut alles, um ihn zufriedenzustellen, sie versucht sogar, ihn mit ihrer Rationalität vor seinen eigenen Überreaktionen zu schützen, bekommt aber keinerlei Anerkennung, sondern allenfalls herablassende Bemerkungen als Dank dafür.

Mulder hingegen, der mit dieser Schilderung überhaupt nicht einverstanden ist, beschreibt Scully als jeden Morgen schlecht gelaunt und nörgelnd, während er selbst versucht, auf ausgesucht höfliche Weise ihr den Fall zu erklären. Der Sheriff ist ein geistig unterbelichteter, lispelnder Dorftölpel mit Überbiss, den Scully wie ein 13-jähriges Schulmädchen anhimmelt. Als Mulder sein umfassendes Wissen über Vampire und seine Theorien auspackt, schaltet Scully auf Durchzug und überhört die eine Hälfte, während sie die andere als abwegig abtut. Dass die Untersuchung auch für ihn keine reine Spaßveranstaltung ist, ignoriert sie völlig, selbst als er reichlich ramponiert aussehend ins Motel zurückkehrt. Statt dessen jammert sie, wieviel sie arbeiten muss und was sie alles für ihn tut.

Man muss sich am Ende der beiden Versionen wieder einmal wundern, dass Skinners Job ihn noch nicht ins Irrenhaus befördert hat, wenn das die Art und Weise ist, wie die beiden ihre Berichte abliefern. Für den Zuschauer ist es, obwohl es sich um zweimal dieselbe Geschichte handelt, sehr kurzweilig: Da Mulder und Scully in dem Fall größtenteils separat ermitteln, beschränken sich die Wiederholungen auf wenige Szenen, deren Schilderung sich aber völlig unterscheidet. Letztlich bleibt den beiden die Anhörung erspart, denn Skinner schickt die beiden nach Texas zurück: Dort ist Ronnies Leiche aus der Leichenhalle verschwunden und der Gerichtsmediziner wurde ausgeblutet und mit Bisswunden aufgefunden.

Wie sich herausstellt, ist Ronnie tatsächlich ein Vampir, der ein paar Vampirfilme zuviel angesehen hat und sich daraufhin mit falschen Fangzähnen ausgestattet hat. Aber nicht nur das: Die ganze Gemeinde inklusive des Sheriffs besteht aus Vampiren, hat sich aber perfekt an die moderne Gesellschaft angepasst und wäre wohl nie aufgeflogen, wenn Ronnie nicht den Spleen entwickelt hätte, sich wie ein Film-Vampir zu verhalten: "I really need to apologize to you about Ronnie. He makes us all look bad. He's just not who we are anymore. I mean, we pay taxes, we're good neighbors… he can’t quite seem to grasp the concept of low profile. But though he may be a moron, he is one of our own."

Die Erzählweise aus zwei verschiedenen Perspektiven (auch als "Rashomon"-Erzähltechnik bekannt, nach einem japanischen Film von 1950, dem bekanntesten frühen Beispiel dieser Erzähltechnik im Film) erinnert etwas an die Staffel 3-Episode "José Chung's 'From Outer Space'", in der auch dieselbe Geschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählt wurde - dort wurde noch expliziter auf den Einfluss von Gedächtnislücken und verzerrte Erinnerungen eingegangen, mit der Schlussfolgerung, dass eine "wahre" Erzählung der Geschehnisse gar nicht existieren kann. Was Mulder und Scully angeht, ist natürlich vor allem deren Selbstbild und die Sichtweise auf den Partner amüsant, und lässt teilweise tief blicken: Mulder ist, das kann man aus anderen Episoden schließen, sicherlich nicht so höflich und aufmerksam Scully gegenüber, wie er sich selber sieht - während Scully hier wieder meine Vermutung bekräftigt, dass sie sich allzusehr um Aufmerksamkeit männlicher Autoritätspersonen sorgt, denn sie flirtet auch in ihrer eigenen Version wie ein Mädchen mit dem Sheriff (und ganz ehrlich, der ist auch in ihrer Version ein Depp). "Bad Blood" ist auch wieder eine dieser Episoden, in denen Mulder und Scully den Ereignissen hinterherlaufen und den Vampiren überhaupt nicht gewachsen sind (es erinnert an die teuflische Lehrerin in "Die Hand, die verletzt"). Man kann sich fragen, ob das daran liegt, dass sie mehr mit sich selbst und ihrem Ärger über den jeweils anderen als mit dem Fall beschäftigt waren.

"Bad Blood" ist eine äußerst unterhaltsame Episode, was vor allem an den vielen eingestreuten Gags liegt - wie Mulder, der frustriert einen Papierkorb zertrampelt, der Überbiss des Sheriffs, die fehlgeschlagenen Versuche, den Reifen des Caravans zu durchschießen, das Zwangsverhalten der Vampire mit den Schnürsenkeln und den Sonnenblumenkernen, die überzeichneten Autopsieszenen mit der gelangweilten Scully etc. Und natürlich Mulder und Scully, die sich wie ein altes Ehepaar streiten. Ein Kritikpunkt könnte sein, dass diese Darstellung ihrer Beziehung vielleicht etwas zu spät kommt und vor Scullys Krebserkrankung glaubwürdiger gewesen wäre. Gut gefallen hat mir auch die originelle Idee, dass hier eine ganze Gemeinde von Vampiren unerkannt als brave Steuerzahler lebt. Gillian Anderson und David Duchovny überzeugen hier wieder einmal auch mit komödiantischen Talenten. Ein paar effektive Horrorszenen hat die Episode auch noch zu bieten - so der Teaser, der Überfall Ronnies auf Mulder, und die Szene, als eine Gruppe von Vampiren mit ihren grünglühenden Augen auf Mulder zugeht. "Bad Blood" ist nicht grundlos eine der beliebtesten Comedy-Folgen, wenn ihr auch der Tiefgang der besten Darin Morgan-Episoden fehlt. Ich vergebe fünf Pepperoni-Pizzas dafür.
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Re: Akte X - Staffel 5

Beitragvon nevermore » Mo 3. Jun 2019, 21:32

Folge 13, Staffel 5: "Cassandra (Teil 1) / Patient X"

Drehbuch: Chris Carter & Frank Spotnitz
Regie: Kim Manners



In Kazachstan wird eine ganze Menschenansammlung verbrannt aufgefunden; außer einem einzigen Überlebenden weiß niemand, was geschehen ist. Krycek nimmt den Überlebenden als Geisel und in den Leichen werden Implantate gefunden. Das Syndikat ist ob der Geschehnisse in hellem Aufruhr. Währenddessen trifft Mulder in Anschluss an ein Symposium über Außerirdische eine Frau, die behauptet, mehrfach entführt worden zu sein. Er ist aber weiterhin überzeugt, dass alles eine von der Regierung inszenierte Lüge ist. Doch dann ereignet sich am Skyland Mountain, dem Ort, an dem Scully entführt wurde, ein ähnlicher Vorfall und auch hier erweist sich, dass die Verbrannten ehemalige Entführte sind.

Der "Cassandra"-Zweiteiler (im Original "Patient X / The Red and the Black") bringt nach längerer Zeit wieder einmal die Mythologie einen großen Schritt voran und führt nicht nur mehrere neue Charaktere, die noch wichtig werden sollen, sondern auch eine völlig neue Dimension der Handlung um die Außerirdischen ein - nämlich die gesichtslosen Rebellen. "Patient X" ist der Name, mit dem die zentrale Protagonistin der Episode auf dem Symposium am MIT bezeichnet wird; ihr richtiger Name ist Cassandra Spender.

In "Patient X" passiert wieder so vieles, dass man kaum weiß, wo man beginnen soll. Es gibt offenbar neben den Kolonisten, die mit dem Syndikat kooperieren, noch eine andere Gruppe von Außerirdischen, die gegen den Kolonisierungsplan rebellieren und Jagd auf Entführungsopfer zu machen scheinen. Erst in Kazachstan, später dann auf dem Skyland Mountain kommt es zu Angriffen, bei denen Dutzende Menschen lebendig verbrennen. Die Angreifer haben humanoide Gestalt, aber alle ihre Gesichtsöffnungen - Augen, Nase und Mund - sind versiegelt. Wie später von den Leichen gemachte Röntgenaufnahmen zeigen, waren alle Verbrannten Träger von Implantaten und wurden offenbar von diesen zum Unglücksort gelotst. Die Rebellen versuchen, gegen die Kolonisierung Widerstand zu leisten; die Vernichtung der Entführungsopfer sind Teil dieses Vorhabens, denn die Entführten sind als Testpersonen, die einer Abfolge von Experimenten unterzogen werden, ein wesentlicher Bestandteil der Vorbereitung der Kolonisierung. Ein Junge, Dmitri, der Zeuge des Vorfalls in Kazachstan wurde, wird von Krycek aufgegriffen - der sich mit der sich ebenfalls am Ort des Geschehens einfindenden Covarrubias um die Jurisdiktion über die Angelegenheit auseinandersetzen muss. Covarrubias ist in ihrer Eigenschaft als UN-Repräsentantin vor Ort, aber Krycek sagt ihr, "I know who you are and I know who you work for" (für das Syndikat nämlich), und weist sie an: "Tell them it's all going to Hell." Den Jungen nimmt Krycek mit in einen Gulag und infiziert ihn mit dem Schwarzen Öl. Anschließend werden auch Dmitris Gesichtsöffnungen vernäht.

Als Covarrubias dem Syndikat von den Vorfällen in Kazachstan berichtet, sind diese äußerst beunruhigt. Sie wissen nicht, wie sie die Geschehnisse einordnen sollen, aber ihnen ist klar, dass jemand ihre Pläne sabotiert. Das Syndikat kooperiert mit den Kolonisten als eine Art Verwalter bis zum Beginn der Kolonisierung, aber hundertprozentig vertrauen tun sie den Aliens nicht: "If we're to believe their timetable..." Derartige Versammlungen, erklärt der Brite, waren zu erwarten, aber erst zu Beginn der Kolonisierung, der dem "timetable" zufolge noch 15 Jahre in der Zukunft liegt. Die Episode bestätigt hier die Aussage des Rauchers in "Talitha Cumi": "The date is set." Wieder einmal wird offensichtlich, dass das Syndikat so allmächtig und allwissend nicht ist.

Der einzige, der durchblickt, was vor sich geht, ist ausgerechnet der frühere Kaffeeboy Krycek. Er erfährt von Dmitri, was die Rebellen vorhaben, infiziert ihn mit dem Schwarzen Öl, und will mit dem Syndikat einen Austausch von Dmitri gegen deren aktuelle Forschungsergebnisse in Sachen Impfstoff aushandeln. Er wäre dann der einzige, der im Besitz des ganzen Wissens beider Seiten ist: "They give me what I want ... I'm going to rule the world!" Krycek, im X-Files Fandom auch sehr treffend "Ratboy" genannt, macht hier wieder seinem miserablen Ruf alle Ehre. Doppelagent und egomanisch wie er ist, ist er jederzeit bereit, alles und jeden zu verraten, um auf der Machtleiter eine Stufe weiter nach oben zu kommen. Hier misshandelt und benutzt er den armen Dmitri erbarmungslos für das Wissen um den Impfstoff. Allerdings hat er dabei nicht mit Covarrubias gerechnet, die ebenso wie er im eigenen Interesse alle Seiten gegeneinander ausspielt und außerdem ein Verhältnis mit ihm hat. Eigentlich sind Krycek und Covarrubias Partner, aber offenbar hat Marita doch noch ein wenig mehr Integrität in sich als Krycek - oder vielleicht auch nur Angst, dass der das Vorhaben wieder vermasselt, wie schon öfter ("You really think you can pull this off?"). Jedenfalls trickst sie ihn aus und entkommt mit Dmitri sowohl Krycek als auch dem Briten, der mit ihr gekommen ist, um Dmitri zur Befragung zum Syndikat zu bringen. Aber auch Covarrubias hat sich verrechnet, denn als sie Mulder kontaktieren will, wird sie von Dmitri mit dem Schwarzen Öl infiziert. Am Ende ist Krycek in den Händen des Syndikats, und niemand weiß, was mit Marita oder Dmitri geschehen ist.

Im zweiten Handlungsstrang um Mulder und Cassandra Spender sieht man Mulder auf einem Symposium über Entführungen durch Außerirdische diskutieren. Mulder hat im "Redux"-Dreiteiler aufgrund von Kritschgaus Enthüllungen aufgehört zu glauben, dass intelligente Außerirdische in der Verschwörung eine Rolle spielen. Er vertritt nun energisch die Auffassung, dass an allem die Regierung schuld ist und die Alien-Geschichten inszeniert und am Leben hält, um die Öffentlichkeit über ihre eigenen dunklen Machenschaften zu täuschen. Er ist dabei unnachgiebiger und auch aggressiver, als Scully es je war - im Grunde genauso unnachgiebig, wie er zuvor seine Überzeugung, dass auf der Erde Außerirdische aktiv sind, vertrat. Nach wie vor wischt er alle Gegenargumente weg, nur dass er jetzt auf der anderen Seite steht. Man muss allerdings auch sagen, dass ihm die querschnittsgelähmte Cassandra Spender, um die es auf der Podiumsdiskussion geht, die Sache leicht macht: Cassandra (benannt nach der Seherin in der griechischen Mythologie, deren Warnungen keiner ernst nahm) behauptet, die Außerirdischen hätten sie zu einer Gesandten gemacht, deren Aufgabe es sei, die Botschaft eines neuen Zeitalters der Erleuchtung zu verkünden (es erinnert stark an die Sekte des Red Museum in der gleichnamigen Staffel 2-Episode).

Mulders Kehrtwende und sein plötzlicher Skeptizismus überzeugte mich aus bereits ausgeführten Gründen schon im "Redux"-Dreiteiler nicht, und nach dem ersten Drittel von Staffel 5 kommt erschwerend hinzu, dass er sich ausschließlich auf die Aliens beschränkt. Allen anderen paranormalen Phänomenen steht Mulder wie eh und je aufgeschlossen gegenüber - er hat weiterhin kein Problem, an von Psychiaterinnen kontrollierte Killerbäume, an unsichtbare Mutanten auf der Suche nach Jungbrunnen oder Vampire zu glauben. Nur wenn es um Aliens geht, reagiert er mit einem genervten Zynismus, der fast schon bedauernswert ist. Man könnte seine beinahe schon aggressive Ablehnung von allem, was mit Aliens oder UFOs zu tun hat, vielleicht damit begründen, dass er jetzt auf einer neuen "Mission" ist, nämlich die "Wahrheit" unter die Leute zu bringen, welche Machenschaften die Regierung mit der Maskerade um die Außerirdischen verbirgt. Es gibt in "731", der Staffel 3-Episode, eine Szene, in der Scully ganz ähnlich reagiert: "Don't you see Mulder, you're doing their work for them! You're chasing aliens that aren't there, helping them to create the story that covers the shameful truth!" In "Patient X" meint Scully, auf ihre ursprüngliche Aufgabe anspielend: "Well ... I guess I'm done here. You seem to have invalidated your own work." Es lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wieviel seit dem Pilotfilm geschehen ist. Scully selbst wird demgegenüber im Lauf der Gespräche mit Cassandra ihren Worten gegenüber immer aufgeschlossener, und Mulders Gesicht, als sie schließlich zu bedenken gibt, vielleicht sollte er Cassandras Darstellung nicht so vorschnell ausschließen, ist unbezahlbar. Es ist vermutlich eine beabsichtigte Umkehr des Running Gags aus der ersten Staffel, dass hier erstmals am Ende der Episode nur Scully, aber nicht Mulder das UFO sieht.

Natürlich wirkt Cassandra Spender auf den ersten Blick abgedreht. Sie ist Angehörige eines Endzeit-UFO-Kults und behauptet nicht nur, eine mehrfach Entführte zu sein, sondern redet von den Aliens, als seien sie wohlmeinende Götter, deren Hohepriesterin sie ist. Nach ihrer Meinung wollen die Aliens den Menschen lehren und sind große Heiler (man fragt sich, weswegen sie dann im Rollstuhl sitzt) - ob Scully wegen ihrer Ausbildung als Ärztin eine "Auserwählte" sei? Nicht nur Mulder, sondern auch ihr Sohn Jeffrey Spender, ein junger FBI-Agent, dem das Verhalten seiner Mutter hochgradig peinlich ist ("I'd like to build a reputation here, not be given one"), nimmt sie nicht ernst, als sie von einem Krieg zwischen verschiedenen außerirdischen Rassen erzählt. Sie spricht von Leuchttürmen, zu denen die Entführten gerufen würden, und die Versammlung am Ende der Episode, als alle gen Himmel schauen und auf das UFO warten, erinnert doch stark an die Zusammenkünfte einer 1990er UFO-Endzeitsekte.

"Patient X" bringt nach längerer Zeit die Mythologie wieder einen großen Schritt voran - wobei die Episode wieder einmal mehr neue Fragen aufwirft, als bereits vorhandene offene beantwortet werden. Besonders die gesichtslosen Rebellen sind ein großes Rätsel - wer sind sie, wodurch sind sie motiviert, warum sind ihre Gesichter vernäht? Der Zweiteiler dürfte auch der Punkt sein, an dem einem beträchtlichen Teil der Zuschauer die ganze Mythologie zu kompliziert wurde - ich erinnere mich, dass es mir beim ersten Durchlauf so ging. Ohne sich wirklich intensiv mit der Serie zu beschäftigen, kann man den immer zahlreicheren und verworreneren Handlungsfäden und Charakterentwicklungen zu diesem Zeitpunkt kaum noch folgen.

Schafft man es aber, den Überblick zu behalten, so ist "Patient X" eine sehr gute Mythologieepisode, mit hohem Tempo und guten schauspielerischen Leistungen vor allem von Gillian Anderson und Veronica Cartwright als Cassandra Spender (sie erhielt eine Emmy-Nominierung für ihre Rolle). Das Wiedersehen mit Alex Krycek und die längst überfällige Weiterentwicklung von Marita Covarrubias waren sehr willkommen. Mit den Überfällen und den Massenverbrennungen der Entführten hat die Episode spektakuläre und erschreckende Szenen aufzuweisen, und auch die Szenen mit Krycek und Dmitri sind gut gelungen. Nicht zuletzt hat "Patient X" eine großartige Schlussszene mit einem ebensolchen Cliffhanger zu bieten. Ein - allerdings ererbter - Kritikpunkt ist und bleibt der auf mich völlig konstruiert und unglaubwürdig wirkende neue Skeptizismus von Mulder. Insgesamt schafft "Patient X" jedoch den Spagat, der in früheren Mythologieepisoden nicht gelungen ist - nämlich all die dicht gepackte Handlung sowie Charaktermomente, die die Auswirkungen der Geschehnisse auf die Betroffenen darstellen, in derselben Episode unterzubringen. Ich vergebe gute fünf Eintrittskarten für's Außerirdischen-Symposium dafür.
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Re: Akte X - Staffel 5

Beitragvon nevermore » Di 11. Jun 2019, 23:09

Folge 14, Staffel 5: "Cassandra (Teil 2) / The Red and the Black"

Drehbuch: Chris Carter & Frank Spotnitz
Regie: Chris Carter



Nach dem jüngsten Angriff der Rebellen in Pennsylvania ist Cassandra Spender verschwunden. Scully wird schwer verletzt aufgefunden, kann sich aber an nichts mehr erinnern. Mittels Regressionshypnose versucht sie, an die Erinnerungen heranzukommen und zu rekonstruieren, was geschehen ist. Das Syndikat hat einen der außerirdischen Rebellen gefangen genommen und muss jetzt entscheiden, ob man sich dem Widerstand anschließt, oder den Mann den Kolonisten übergibt.

Der Episodentitel "The Red and the Black" bezieht sich den Produktionsnotizen zufolge auf den Impfstoff (eine rote Flüssigkeit) und das Schwarze Öl, und auch die veränderte Tagline "Resist or Serve" - sie stammt aus Kryceks Unterredung mit Mulder - steht damit im Zusammenhang. Zum Ende von "Patient X" wurde eine Gruppe ehemaliger Entführter von den gesichtslosen Rebellen attackiert, viele von ihnen starben und Cassandra Spender wurde von einem intervenierenden Schiff der Kolonisten entführt. "The Red and the Black" nimmt jedoch den Faden nicht an dieser Stelle wieder auf, sondern zeigt zunächst eine Szene im hohen Norden Kanadas, wo jemand in einer Hütte mitten im Schnee auf einer mechanischen Schreibmaschine einen Brief an seinen Sohn schreibt und diesen einem Jungen zur Zustellung an das FBI übergibt. Die mechanische Schreibmaschine sieht vertraut aus; wer sich an "Musings of a Cigarette Smoking Man" erinnert, kann schon erahnen, dass der Autor der Raucher ist.

In der Zwischenzeit werden in Pennsylvania am Ruskin Dam, dem Ort des letzten Angriffs der Rebellen, Dutzende verbrannter Leichen geborgen. Mulder und Skinner suchen nach Scully, während Jeffrey Spender auf der Suche nach seiner Mutter Cassandra ist. Scully hat das Ganze bis auf einen Schock einigermaßen unbeschadet überstanden und befindet sich im Krankenhaus, kann sich jedoch an nichts erinnern. Als sie sagt, sie könne nicht weitermachen, solange sie nicht weiß, was mit ihr passiert ist, kann Mulder sie zu einer Regressionshypnose bewegen. Die Szenen in der Hypnosesitzung sind mit die eindrucksvollsten der ganzen Episode, woran Andersons Leistung einen großen Anteil hat. Es ist wert, Carters Kommentar dazu zu zitieren, der beschreibt, wie die Szene durch eine ähnliche Sitzung an der Harvard-University beeinflusst ist, bei der er zugegen war:
I actually went to Harvard and sat with the now-deceased Dr John Mack who was the man who had done the original work, scientific investigation into the existence of extraterrestrials that the X-Files was really kind of based on. I had been allowed to go to his place of work and sit in on a regression hypnosis which is how I ended up writing this sequence. I actually got to sit next to someone who claimed they’d been abducted by aliens like Scully is here, and feel the power of that memory recalled by Dr Mack who had hypnotized this person I was sitting next to. It was an amazing experience for me to first of all be allowed to do it, because it was very personal for the person, and the person who allowed me to do it was extraordinary, and then to sit there and actually witness this. And I still admit to being a sceptic but the power of sitting next to someone who goes through their abduction again, the pain of it, just like Scully had done there, was freaky for me.
Dass die Ereignisse Scully tiefgreifend verändert haben, ist zu diesem Zeitpunkt offensichtlich, und Mulder, der durch die ganze Sitzung neben ihr saß und ihr die Hand hielt, kann man förmlich ansehen, wie sein neu gewonnener Skeptizismus ins Wanken gerät. Eine herrliche Szene folgt in Skinners Büro, der die Aufnahme von Scullys Hypnosesitzung angehört hat und über Mulders Erklärung, das alles sei von der Regierung inszeniert worden, sagt: "Over the past five years I've doubted you, only to be persuaded by the power of your belief in extraterrestrial phenomena, and I'm doubting you now, not because of that belief, but because extraterrestrial phenomena is frankly the more plausible explanation."

Währenddessen bleibt Cassandra Spender verschwunden. Ihr Sohn Jeffrey, der FBI-Agent, ist darüber wütend und gibt Mulder die Schuld. Man kann Spenders Unmut und seinen Wunsch, sich und seine Mutter vor Schaden durch das, was er für den Ausdruck eines verstörten Geistes hält, zu bewahren, verstehen. Wie Spender Scully erzählt, sind er und seine Mutter von seinem Vater verlassen worden, und er glaubt, dass seine Mutter darüber den Verstand verloren habe. Er zeigt Scully eine Videoaufnahme einer Hypnosesitzung, in der er als Elfjähriger von der Entführung seiner Mutter durch Außerirdische erzählt. (Es hat frappierende Ähnlichkeit mit Mulders Erzählung über die Entführung Samanthas.) Wie er sagt, habe das alles nie stattgefunden: "She told me that story so many times that I believed it. Absolutely. It became a kind of truth and it was really just a substitute. For the fact that my dad had left his family and it drove my mom insane. Only, I was eleven years old and I didn't know it." Es drängt dem Zuschauer die Frage auf, ob es bei Mulder ebenso gewesen ist. Spender hält die Regressionshypnose für einen Schwindel und gefährlich, und glaubt, dass Scullys Erfahrungen in der Sitzung auf ähnliche Weise durch Mulders ständige Entführungsgeschichten verursacht sind.

Spender, der, wie ich vermute, als Kind tatsächlich eine Entführung seiner Mutter mitbekommen hat, ist eine weitere Figur, die als ein Spiegelbild von Mulder fungiert (ähnlich wie auf andere Weise Krycek). Ihm ist - so jedenfalls meine Vermutung - etwas ähnliches passiert wie Mulder, aber er will sich damit nicht auseinandersetzen, weil es für ihn einfacher ist, das Ganze als Hirngespinst abzutun. "I'd like to build a reputation here, not be given one." Mit anderen Worten, er will nicht, dass es ihm so wie Mulder ergeht und er zu "Spooky Spender" wird. Es ist interessant, dass Spender gerade zu dem Zeitpunkt eingeführt wird, als Mulder selber an einem dunklen Punkt des Zweifelns an Allem angekommen ist. Mulder hält zu diesem Zeitpunkt der Serie seine eigenen Erinnerungen ebenso für falsch wie Jeffrey Spender die seinen. Wenn man sich Spender anschaut (und Mulder in "Patient X"), fragt man sich, ob diese Variante wirklich die bessere ist. Nach Spenders Besuch beginnt Scully wieder zu zweifeln, gerade als Mulder anfängt, seinen Skeptizismus in Frage zu stellen.

In der Zwischenzeit hat das Syndikat die abtrünnige Marita Covarrubias, die mit dem Schwarzen Öl infiziert aufgegriffen wurde, zum Testobjekt für den (vom Syndikat entwickelten) Impfstoff gemacht. Er scheint nicht zu wirken. Der Brite verlangt deshalb vom gefangen genommenen Krycek den russischen Impfstoff, um diesen an Covarrubias auszuprobieren. Als kurz darauf ein Raumschiff der Rebellen abgeschossen wird, gelingt es dem Syndikat, einen ihrer Anführer gefangenzunehmen. Noch bevor klar ist, ob der russische Impfstoff wirkt (wie sich später herausstellt, tut er das), steht das Syndikat nun vor der Entscheidung, die der Episode die Tagline gibt: "Resist or Serve". Mit dem gefangen genommenen Rebellenführer und mit dem Impfstoff scheint sich nun ein Weg für das bisher für unmöglich Gehaltene aufzutun: Widerstand gegen die Kolonisten zu leisten. Die Mehrheit des Syndikats hält dies jedoch nach wie vor für aussichtslos: "Side with the resistance?" - "Suicide." - "They'll squash us as they do them." Die einzigen, die dafür sind, sich dem Widerstand anzuschließen, sind der Brite und Krycek, und der Brite schickt Krycek zu Mulder, um den Rebellenführer zu befreien, der vom Grauhaarigen bereits an die Kolonisten übergeben worden ist.

Nach wie vor weiß man nur wenig über die außerirdischen Rebellen und ihre Motive. Das Versiegeln der Gesichtsöffnungen dient, so vermutet das Syndikat, als Schutz gegen die Infektion durch das Schwarze Öl. Es hat den Anschein, dass bei Dmitri das Schwarze Öl tatsächlich den Körper nur durch die Körperöffnungen verlassen kann und auch sonst hat man in der Serie des Öfteren das Schwarze Öl durch Körperöffnungen ein- und austreten sehen. Dennoch ist dieser Punkt etwas unklar, hat doch andererseits das Schwarze Öl bereits alle möglichen Substanzen inklusive von Hochsicherheits-Schutzanzügen durchdrungen. Es ist ewas merkwürdig und erscheint mir nicht ganz konsistent, dass das Schwarze Öl alle möglichen leblosen Sustanzen durchdringen, Lebewesen aber nur über deren Körperöffnungen infizieren kann. Über die Herkunft der Rebellen kann auch nur spekuliert werden. Sie haben allesamt dasselbe Aussehen wie der außerirdische Kopfgeldjäger; der Kollege von Eat The Corn vermutet deshalb, dass die Rebellen derselben Rasse der Gestaltwandler angehören wie der außerirdische Kopfgeldjäger, und wegen ihres identischen Aussehens, dass sie Klone sind. Er führt weiter aus, dass die Gestaltwandler vermutlich von einem Planeten kommen, der bereits von den Kolonisten übernommen wurde. Einige von ihnen wurden mit dem Schwarzen Öl infiziert und eingesetzt, um bei der Kolonisierung der Erde zu helfen; andere widersetzten sich und formten die Widerstandsgruppe. Dass der Widerstand aus Klonen besteht, würde zu dem aufsässigen Verhalten der Klone, die auf der Erde geschaffen wurden, passen.

Nachdem das Syndikat entschieden hat, den Rebellenanführer den Kolonisten zu übergeben, dringt ein außerirdischer Kopfgeldjäger in die Air Force Basis ein, in der er gefangen gehalten wird. Es kommt zum Showdown; Mulder, von Krycek dorthin geschickt, kann nicht verhindern, dass der Kopfgeldjäger drauf und dran ist, den Rebellenanführer zu töten, aber gerade noch rechtzeitig kommt ein Rebellenschiff, um ihn zu retten. Man sieht ein gleißendes Licht und man sieht Mulder auf jemanden schießen, aber man sieht nicht, auf wen er schießt, oder was sonst geschieht. Wenig später wird Mulder in Handschellen abgeführt und an Scully, die vor dem Tor auf ihn wartet, übergeben. Auf ihre Frage, was geschehen ist, sagt er, er wisse es nicht. Anders als bei seinen früheren Begegnungen mit UFO gehe ich davon aus, dass diesmal sein Gedächtnis nicht gelöscht wurde - die Rebellen hätten keinen Grund, das zu tun. Mulder kann aber seine Erlebnisse auf der Air Force Basis nicht mit seinem Skeptizismus in Einklang bringen, und eröffnet, wieder in seinem Kellerbüro angekommen, eine X-Akte über Cassandra Spender. Man kann davon ausgehen, dass dies das Ende seiner Skeptiker-Phase markiert.

"The Red and the Black" endet dort, wo die Episode begann: Im hohen Norden Kanadas, in der Hütte des Rauchers, der den Brief an seinen Sohn - der, wie die Szene davor offenbart, niemand anders als Jeffrey Spender ist - mit dem Vermerk "Return to Sender" ungeöffnet zurückbekommt. So wissen wir nun auch, dass der Raucher der Mann ist, der seine Frau Cassandra Spender verließ - und es ist damit, zumindest für mich, sehr wahrscheinlich, dass Cassandras Entführung nicht eine Einbildung ihrer und Jeffreys übersteigerter Fantasie infolge der Trennung war, sondern tatsächlich geschehen ist. Bei den Recherchen zu diesem Zweiteiler fand ich heraus, dass es mit dem Inhalt seines Briefs eine besondere Bewandtnis hat, und zwar mit dem Teil, der die Navajo-Geschichte betrifft: "I remind myself of a Navajo story. Twin war gods come to their father, seeking magic and weapons to eliminate the monsters of the world." In der Schöpfungsgeschichte der Navajo-Mythologie werden die Zwillingsbrüder Nayenezgani und Tohbachischin, von ihrem Vater, der Sonne, vor Prüfungen gestellt und mit Geschenken bedacht, um Monster zu töten, und den Weg für die Menschheit freizumachen. Die Parallele zu Jeffrey und Fox (von dem man an dieser Stelle zwar nur vermutet, aber nicht bestätigt bekommen hat, dass er auch ein Sohn des Rauchers ist) ist offensichtlich.

Mit diesem "Cassandra"-Zweiteiler hat Akte X nun endgültig epische Ausmaße angenommen. Es gibt einen galaktischen Krieg zwischen zwei außerirdischen Rassen, der über den Köpfen der Menschen tobt, die diesen Kräften hilflos ausgeliefert sind, und ihnen weder etwas entgegenzusetzen haben noch sie verstehen. Symbolisch und symptomatisch hierfür steht Mulders fruchtloser Versuch, in der Air Force-Basis in das Geschehen einzugreifen, und seine Verwirrung hinterher. Entsprechend bekommen wir nicht, wie in einer Science-Fiction-Serie zu erwarten, große Weltraumschlachten zu sehen, sondern das Geschehen wird in ein paar Dialogzeilen von Krycek und Cassandra erklärt. Anders als man erwarten könnte sind die Rebellen hier nicht notwendigerweise die "Guten"; sie wollen nicht den Menschen helfen. Sie handeln aus Eigeninteresse in einem Konflikt mit einer anderen Rasse, und die Erde ist nur ein Schlachtfeld für sie. Der Brite mag sich ihnen anschließen wollen, aber es hat nicht den Anschein, als seien sie daran überhaupt interessiert.

Immer deutlicher werden im "Cassandra"-Zweiteiler die religiösen Untertöne der Serie: Krycek beschreibt den Kampf der Außerirdischen als "a struggle between heaven and earth", Cassandra bezeichnet sich als "apostle" der Außerirdischen, auf dem Symposium in "Patient X" sagt ein Kommentator über sie: "She believes [...] that we are not simply breeding cows for them, as some have suggested – but subjects, much like we think of our relationship with God." Reviewer Darren Mooney zitiert einen Artikel aus dem Guardian 1995, in dem auf mögliche Verbindungen zwischen UFO und dem Göttlichen bereits in der mittelalterlichen Kunst hingewiesen wird. Wie Mooney weiter ausführt, klingen demgegenüber Mulders Argumente auf dem Symposium wie atheistische Religionskritik: "The conspiracy is not to hide the existence of extraterrestrials. It's to make people believe in it so completely that they question nothing." Oder anders formuliert: Der Glaube an UFO ist das Opium des Volkes. Allerdings ist Cassandras Glaube an die guten Absichten der Außerirdischen genauso fehlgeleitet; die Kolonisten haben ebensowenig wie die Rebellen das Beste für die Menschen im Sinn. Anders als an einigen anderen Stellen (insbesondere in "Revelations" in Staffel 3) scheint die Serie hier sowohl vor Unglauben als auch vor blindem Glauben zu warnen.

Der "Cassandra"-Zweiteiler ist in mancherlei Hinsicht eine logische Weiterentwicklung der schon in früheren Episoden anklingenden Idee, dass die Kolonisierung kein Unternehmen in Einvernehmlichkeit ist. Es gibt Spannungen innerhalb des Syndikats, es gibt aufmüpfige Klone und nun gibt es auch noch außerirdische Rebellen. "The Red and the Black" lässt aber auch einige wichtige Fragen offen: Warum ist Cassandra Spender so wichtig, dass sie als einzige gerettet wird? Wer sind die außerirdischen Rebellen, und warum haben sie so viele Gemeinsamkeiten mit menschlichen Hybriden?

"The Red and the Black" ist insgesamt - sieht man von dem dramatischen Showdown in der Air Force-Basis ab - eine ruhigere Episode als "Patient X". Besonders gut gefallen hat mir das Einrahmen der Episode in die Szenen im Norden Kanadas zu Beginn und am Ende - die Landschaftsaufnahmen sind atemberaubend schön. Auch Scullys Hypnosesitzung samt den Visionen und das Zusammentreffen von Mulder und Krycek waren sehr gut gemacht. Die größten Stärken der Episode - und des Zweiteilers insgesamt - sind jedoch die Weiterentwicklung der Mythologie und die gelungene Intergration mit den Schicksalen für die einzelnen Figuren, was in früheren Mythologiefolgen immer auf der Strecke geblieben ist. Das ist insbesondere angesichts der nochmals größer und epischer gewordenen Themen, die der Zweiteiler behandelt, beachtlich. Auch für den zweiten Teil vergebe ich deshalb gute fünf Sitzungen beim Hypnotherapeuten.
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Re: Akte X - Staffel 5

Beitragvon nevermore » Do 20. Jun 2019, 20:13

Folge 15, Staffel 5: "Gute Patrioten / Travelers"

Drehbuch: John Shiban & Frank Spotnitz
Regie: William A. Graham



Im Jahr 1990 sucht der am Anfang seiner Karriere stehende Mulder den früheren FBI-Agenten Arthur Dales auf. Der Grund: Bei einer Hausdurchsuchung wurde ein ehemals von Dales verhafteter Mann erschossen, sein letztes Wort ist "Mulder". Dales erzählt Mulder von Ermittlungen in der McCarthy-Ära, während derer Dales einer Verschwörung auf die Spur kam, die an Menschen Xenotransplantations-Experimente durchführte, und in die Mulders Vater verwickelt war.

"All of this has happened before, and all of it will happen again", fiel mir angesichts dieser Episode mal wieder ein. "Travelers" zeigt in einer Rückblende ins Jahr 1990, die ihrerseits wieder ins Jahr 1952 zurückblendet, wie Mulders Vater in eine quasi Vorläufer-Verschwörung verwickelt war, in der ebenfalls - wie später in "Paper Clip" - skrupellose Nazi-Ärzte an Menschen Experimente durchführten. Edward Skur, der Mann, der 1990 bei der Hausdurchsuchung erschossen wurde, war in der McCarthy-Ära ein Angestellter des Außenministeriums, den man für Xenotransplantations-Experimente missbrauchte und dann unter dem vorgeschobenen Verdacht, er sei ein Kommunist, verfolgen ließ. 1952 werden der FBI-Agent Arthur Dales und sein Partner, die nichts von den Experimenten wissen, zu Skurs Haus geschickt, um ihn wegen kommunistischer Umtriebe festzunehmen. Später erreicht Dales ein Anruf, Skur habe Selbstmord begangen, aber in der Nacht nach dem angeblichen Selbstmord sieht Dales Skur auf der Straße einen Mann angreifen und dann fliehen. Von seinen Vorgesetzten wird Dales aus Gründen der nationalen Sicherheit befohlen, Skurs Namen aus seinem bereits geschriebenen Bericht über den Vorfall zu streichen. Eine Erklärung erhält er nicht. Der geflohene Skur, unter dem Einfluss der transplantierten Kreatur zum Mörder geworden, tötet Dales Partner. Dales ist daraufhin entschlossen, herauszufinden, was vor sich geht.

Der Arzt Dr. Strohman, der die Experimente an Skur durchgeführt hat, war Deutscher und kam nach dem zweiten Weltkrieg durch das Projekt Paperclip in die USA - zusammen mit anderen Nazi-Wissenschaftlern wie Victor Klemper, bekannt aus "Paper Clip" in Staffel 3. Betroffen waren drei Beschäftigte des Außenministeriums, neben Skur auch Gissing und Oberman. Offiziell wurden sie wegen Kriegsverletzungen operiert, tatsächlich wurde ihnen Exemplare einer anderen Spezies implantiert. Die implantierte Kreatur sieht aus wie ein großer Krebs - es ist unbekannt, ob sie außerirdischer Herkunft ist. Sie springt durch den Mund des Wirts auf ein Opfer; das Opfer wird später tot aufgefunden und alle inneren Organe und Weichteile sind entfernt. Über den Zweck der Experimente kann man nur spekulieren; Hoover sagt, "If we are to defeat the enemy, [...] we must do those things which even our enemies would be ashamed to do". Möglicherweise standen sie mit den Versuchen, einen Supersoldaten zu erschaffen, im Zusammenhang.

Die Aufsicht über die Experimente hatte William Mulder, der ebenfalls im Außenministerium beschäftigt war (ebenso wie der Raucher und andere Syndikatsmitglieder, wie man aus "Apocrypha" weiß). Andere Figuren in der Episode haben real existiert: Roy Cohn, der für das Justizministerium an den HUAC (House Un-American Activities Committee)-Anhörungen beteiligt und Staatsanwalt im Prozess gegen das Spion-Ehepaar Rosenberg war, und der FBI-Chef J. Edgar Hoover, ebenfalls ein Kommunistenjäger. Diese Regierungsverschwörer entscheiden, wer als Kommunist beschuldigt wird und wer nicht ("What are you talking about? I'm no communist." - "You are, if I say you are.") - die ideale Methode, Versuchspersonen, die nicht mehr gebraucht werden, sowie andere missliebige Leute zu beseitigen. Bill Mulder hat damals schon Probleme mit den Machenschaften seiner Mitverschwörer und gibt die Informationen an Dales weiter: "I risked my career and my family by coming here. But the crimes these men have committed against innocent people... I can't have that on my conscience anymore. Someone needs to know the truth." Später verhilft er Skur zur Flucht, in der Hoffnung, dass die Wahrheit herauskommt.

"Travelers" ist ähnlich wie "Unusual Suspects" eine Episode, die die Hintergrundgeschichte der Serie erzählt. Arthur Dales untersucht eine der frühen X-Akten - man erfährt, woher der Name stammt und wer entscheidet, ob eine Akte eine X-Akte ist. Wie schon öfter schreibt die Serie in "Travelers" ihre eigene Version der Geschichte, mit real existierenden Personen wie Roy Cohn und J. Edgar Hoover und der Kommunistenjagd in der McCarthy-Ära, und stellt Verbindungen zwischen ihnen und der Mythologie der Serie her. Dales selbst ist benannt nach dem Drehbuchautor Howard Dimsdale, der als Kommunist verfolgt wurde und gezwungen war, unter dem Pseudonym "Arthur Dales" zu schreiben. Die Situation weist einige Parallelen zur Alien-Verschwörung der Mythologie auf: Es gibt einen als übermächtig angesehenen Feind (Sowjetunion), und um sich den vom Leib zu halten, muss man schreckliche Dinge tun (u.a. Experimente an unschuldigen und nichtsahnenden Menschen, unter Zuhilfenahme von Nazi-Ärzten). J. Edgar Hoover und Roy Cohn bedienen sich einer sehr ähnlichen Rhetorik wie der Raucher, wenn es um die Kolonisten geht. Dales kann man als eine Art Vorläufer von Fox Mulder betrachten, der auf der Suche nach der Wahrheit ist (die Folge weist sogar ausdrücklich auf die Parallele hin: "I was ruined for my insubordination. You keep digging through the...The X-files and they'll bury you, too."). Bill Mulder wiederum zeigt bereits in dieser frühen Phase, dass er trotz seiner Verwicklung in die Verschwörung ein Gewissen hat, und die Wahrheit ans Licht bringen will - wie auch später, als er Fox die Wahrheit erzählen will, aber bevor er das tun kann, von Krycek und seinem Partner umgebracht wird. Wobei man sagen muss, dass die Entscheidung, den mörderischen Skur laufenzulassen, in der Hoffnung, es möge die Wahrheit ans Licht kommen, wirklich nicht zu vertreten ist. Worauf Mulder (der Sohn) auch reagiert; die Folge ist schon recht deutlich, dass Bill Mulder ein sehr ambivalenter Charakter ist. Wie ja auch in anderen Folgen in der Serie.

Ambivalent sind auch meine Eindrücke zu der Episode. Was mir gut gefallen hat, war die Fortführung der "alternativen Geschichtsschreibung" mit der Einbeziehung der realen Personen und Ereignisse, ebenso die Verknüpfung mit der Mythologie der Serie - und damit verbunden die sich wiederholenden Muster der Verschwörung. Sehr gut fand ich auch das Detail mit den Anfängen der X-Akten, inklusive der Erklärung des Namens (unter "U" wie "ungelöst" war kein Platz mehr, deshalb hat die Sekretärin sie unter "X" abgelegt!) Die 50er Jahre Settings waren sehr gut umgesetzt, und auch die Verfilmung der Szenen in dieser Periode mit den verwaschenen Farben (wie mit Patina überzogen) fand ich sehr gelungen. Die Geschichte mit der Xenotransplantation war mir etwas zu trash-horrormäßig, und auch die Erklärung für die Experimente konnte mich nicht wirklich überzeugen. Insgesamt überwiegt aber für mich noch das Positive. Ich gebe knappe vier 50er Jahre Hüte dafür.
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Re: Akte X - Staffel 5

Beitragvon nevermore » So 23. Jun 2019, 17:54

Folge 16, Staffel 5: "Das innere Auge / Mind's Eye"

Drehbuch: Tim Minear
Regie: Kim Manners



In Delaware wird eine Frau blutverschmiert neben der Leiche eines Drogendealers gefunden. Sie wird unter Mordverdacht verhaftet und gesteht, aber weil sie blind ist, ist unklar, wie sie den mit chirurgischer Präzision durchgeführten Mord begangen haben könnte. Mulder findet heraus, dass vor Jahren ihre Mutter von ihrem Vater auf dieselbe Art umgebracht worden ist. Es stellt sich heraus, dass die Frau mit den Augen ihres Vaters sieht.

"Mind's Eye" hat viele Ähnlichkeiten mit der Staffel 3-Episode "Oubliette". Die Episode dreht sich um eine junge Frau, die von Visionen heimgesucht wird und versucht, damit fertig zu werden. Marty Glenn hat eine ähnliche von Kleinkriminalität geprägte Vergangenheit wie Lucy Householder, ist aber kein Entführungsopfer wie Lucy. Marty ist durch den Mord, den ihr Vater an ihrer Mutter beging, kurz bevor sie entbunden wurde, mit diesem geistig verbunden, was bedeutet, dass sie die Welt - und die Taten ihres Vaters - durch dessen Augen sieht. Ansonsten ist Marty infolge ihrer Notentbindung von Geburt an blind. Als ihr Vater in einem Motelraum einen Mord begeht, ist sie am Tatort, um dies zu verhindern - was ihr aber misslingt. Statt dessen wird sie - blutverschmiert - als Tatverdächtige festgenommen. Dem örtlichen Detective Pennock ist schleierhaft, wie sie den Mord begangen haben könnte - das Opfer ist viel größer als sie und noch dazu hat der Mörder zielsicher die rechte Niere mit einem chirurgischen Schnitt verletzt, um den tödlichen Blutverlust herbeizuführen. Pennock vermutet, Marty habe eine Art sechsten Sinn und holt Mulder und Scully herbei. Mulder bezweifelt, dass sie das Verbrechen begangen hat, und vermutet, sie habe es irgendwie beobachtet.

Durch ihre Visionen, ihre Fähigkeit, die Welt durch die Augen ihres Vaters zu sehen, wird Marty Zeugin der Morde, die er begeht, und in einer Szene, die hängen bleibt, sieht sie, wie er sie beobachtet. Am meisten machen ihr die Visionen zu schaffen, die sie hatte, als ihr Vater im Gefängnis war - und so tut sie alles, um zu verhindern, dass er dahin zurückkehrt. Sie versucht, ihn aufzuhalten, sie bekennt sich sogar selbst schuldig, aber weder die örtliche Polizei noch Mulder glauben ihr. Man will sie in Schutzhaft nehmen, aber als sie dabei ist, zu packen, hat sie eine Vision von ihrem Vater im Eingangsbereich des Hauses. Sie schlägt Pennock k.o. und mit seiner Waffe tötet sie ihren Vater, mit den Worten "I hate the way you see me." Marty endet im Gefängnis, aber sie ist frei von ihrem Vater.

Marty hat sich, wie Mulder bemerkt, ihrer Behinderung in bewundernswerter Weise angepasst. Trotz ihrer Behinderung ist der Charakter nicht durch diese definiert. Gleich zu Beginn sieht man Marty in ihrer Wohnung, wie sie den Fernseher einschaltet und sich hinsetzt, um eine Zigarette zu rauchen (ein cleverer Schachzug der Autoren, da damit zunächst suggeriert wird, sie sei vielleicht gar nicht blind). Als sie eine Vision von einem Mord hat, schafft sie es, zum Tatort zu gelangen. Sie hat die Annahme von Sozialleistungen für Blinde verweigert und reagiert generell passiv-aggressiv, wenn ihr Hilfe angeboten wird. Sie ist auch alles andere als ein Engel; sie hat eine Polizeiakte mit Betrügereien, Kleindiebstählen, und Körperverletzung. Detective Pennock bezeichnet sie als "a real piece of work". Bedenkt man aber, dass sie ihr ganzes Leben lang ein geistiges Horrorkino durchlebt, das sie nicht einmal versteht, muss man sich wundern, dass Marty noch einigermaßen in die Gesellschaft integriert ist und nicht völlig verrückt geworden ist.

Wie in "Oubliette" ist es Mulder, der versteht, was in Marty vor sich geht. Einen Hinweis gibt die Episode mit Martys Satz, "I never wanted to spend my life in a place like this. I had no choice." Gemeint ist, sie hat ohne eigenes Zutun den Gefängnisaufenthalt ihres Vaters durchlebt. Mulder zeigt hier wieder seine typische Empathie für Opfer übermächtiger Kräfte, wobei ich sagen muss, dass mir das diesmal zu aufdringlich und samariterhaft war - Marty machte mehr als deutlich, dass sie seine Hilfe nicht will. "Mind's Eye" rückt auch wieder die nunmehr hinlänglich bekannten Themen der Kinder, die die Sünden ihrer Väter auszubaden haben, ins Zentrum. Hier landet Marty sogar im Gefängnis; nachdem sie die ganze Zeit quasi zusammen mit ihm eingesperrt war, wird sie ausgerechnet im Gefängnis endlich frei. An dieser Stelle muss allerdings ein weiterer Kritikpunkt angebracht werden: Es ist kaum anzunehmen, dass Marty für den Tod ihres Vaters wegen Mordes verurteilt wird; viel wahrscheinlicher ist, dass das als Notwehr durchgeht. Die größte Stärke der Episode ist die schauspielerische Leistung von Lily Taylor als Marty, für die sie eine Emmy-Nominierung erhielt. Hilfreich dabei ist natürlich das Drehbuch, das Marty sehr dreidimensional und nicht wie ein Opfer charakterisiert. Leider ist die Erklärung der übernatürlichen Verbindung Martys mit ihrem Vater sehr konstruiert, und auch das Ende mit der verurteilten Marty ist zwar literarisch gelungen (der Kreis schließt sich), aber leider sehr unplausibel. Insgesamt kam "Mind's Eye" für mich nicht an "Oubliette" heran, die wohl als Vorbild diente. Ich vergebe vier blutige Handschuhe dafür.
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Re: Akte X - Staffel 5

Beitragvon nevermore » Mi 26. Jun 2019, 17:10

Folge 17, Staffel 5: "Alle Seelen / All Souls"

Drehbuch: Billy Brown, Dan Angel, John Shiban & Frank Spotnitz
Regie: Allen Coulter



Auf eine Bitte ihres Gemeindepfarrers hin erklärt sich Scully bereit, in einem mysteriösen Todesfall eines behinderten Mädchens zu ermitteln: Obwohl das Mädchen an den Rollstuhl gefesselt war, hat sie ihr Vater in einer Gewitternacht auf die Straße laufen sehen, wo sie schließlich in einer Gebetshaltung kniend und mit ausgebrannten Augen tot aufgefunden wurde. Es stellt sich heraus, dass das Mädchen adoptiert und ein Vierlingsgeschwister war. Als eine zweite der Schwestern in derselben Haltung tot aufgefunden wird, findet man am Tatort ein umgedrehtes Kreuz. Während Mulder einen religiösen Fanatiker vermutet, beginnt Scully zu glauben, dass übernatürliche Kräfte im Spiel sind.

Die fünfte Staffel hatte schon mehrere Folgen, die sichtlich von der Schwesterserie "Millennium" beeinflusst waren, in "All Souls" ist dieser Einfluss aber sicherlich am deutlichsten. Die Folge wird normalerweise nicht den Mythologie-Episoden zugerechnet, obwohl es gute Gründe gäbe, das zu tun: Sie bringt für Scully den Emily-Handlungsbogen zuende (Andy Meisler, Autor von " Official Guide to The X-Files", bezeichnete "All Souls" als "the unofficial third part" des Emily-Zweiteilers) und es gibt einige Zusammenhänge mit der Handlung der Mythologie, auch wenn sie nicht auf den ersten Blick offensichtlich sind.

Für Scully, die in der fünften Staffel ihren Glauben wiederfand und mit der Tragödie um ihre Tochter Emily einiges an emotionalem Ballast mit sich herumträgt, ist "All Souls" der Kulminationspunkt, an dem alles aufgearbeitet wird. Father McCue, der in "Redux II" mit Scully am Krankenbett betete, bittet sie, sich den Fall eines mysteriösen Todes eines behinderten Mädchens aus seiner Kirchengemeinde anzusehen. Dara Kernof wurde auf der Straße vor ihrem Elternhaus in einer Gebethaltung, das Gesicht und die Hände zum Himmel gewandt und mit ausgebrannten Augen, tot aufgefunden. Da sie aufgrund ihrer schweren Behinderungen an den Rollstuhl gefesselt war, ist unerklärlich, wie sie überhaupt dorthin gekommen ist: Im Teaser sieht man sie auf die Straße laufen; außerdem sind Umrisse einer dunklen Gestalt bei ihr zu sehen. Wie die Ermittlungen ergeben, handelt es sich bei dem Mädchen, das die Familie adoptiert hatte, um eine von vier Vierlingsschwestern, die alle dieselben genetisch bedingten Deformationen aufwiesen, unter anderem zusätzliche Finger und Zehen und flügelartige Auswüchse an den Schultern. Bald darauf stirbt ein weiteres der Mädchen auf dieselbe Weise, und bei der Obduktion hat Scully Visionen von ihrer Tochter Emily. Wie sich herausstellt, wollte ein Pfarrer einer Freikirche, Father Gregory, das Mädchen adoptieren, aber die Intervention des Sozialarbeiters Aaron Starkey verzögerte den Prozess. Als dann noch eine dritte der Schwestern stirbt und Scully eine Vision eines Wesens mit vier nicht-menschlichen Köpfen hat, sucht sie ihren Gemeindepfarrer auf und es wird klar, worum es hier wirklich geht: "It’s a Seraphim. [...] In the story, the angel descends from heaven and fathers four children with a mortal woman. Their offspring are the Nephilim – The "Fallen Ones." ... [T]he Lord sends the Seraphim to Earth to bring back the souls of the Nephilim to keep the Devil from claiming them as his own."

"All Souls" ist die Geschichte des Kampfes des Herrn mit dem Teufel um die Seelen der vier Nephilim. Die Geschichte stammt aus den Apokryphen, christlichen Texten außerhalb des biblischen Kanons. Die Seraph sind Engel, die auf die Erde herabstiegen und sich mit menschlichen Frauen vereinigten. Die Abkömmlinge dieser Vereinigung sind die Nephilim. Als Kinder von männlichen Engeln und menschlichen Frauen sind sie Hybriden. Bei der Recherche fand ich Hinweise auf präastronautische Theorien, in denen die Seraph außerirdische, hochzivilisierte Wesen sind, die vor Jahrtausenden die Erde besuchten und mit Menschen Kinder zeugten. Die Parallele zu Scullys Tochter Emily, deren Vision ihr in der Autopsieszene und später im Finale der Folge erschien, ist offensichtlich. Auch Emily war ein schwer krankes Hybridenkind. "They have the souls of angels but they weren’t meant to be. They’re deformed, tormented." (Scully am Ende von "Emily": "This child... was not meant to be.") Sowohl Emily als auch die Vierlingsschwestern sind Hybridenkinder, entstanden durch Sünden ihrer Väter, Wesen, die vom Himmel kamen. Chris Knowles, Autor von "The Complete X-Files", schlägt im X-Cast Podcast sogar vor, dass die Vierlingsschwestern nicht nur metaphorisch, sondern tatsächlich das Resultat von Hybridisierungsexperimenten sind. Die Geschichte von "All Souls" ist ein weiteres Kapitel in den mittlerweile doch sehr zahlreich und offensichtlich gewordenen Verknüpfungen der Aliens mit dem Göttlichen in Akte X. Die Seraph als "gefallene Engel" (schon in Staffel 1 wurden abgestürzte UFO mit dem Decknamen "Fallen Angel" bezeichnet), in "Fearful Symmetry" spekulierte die Show, dass die Aliens eine Arche bauen, sehr offensichtlich wurden dann im "Cassandra"-Zweiteiler die Aliens mit Göttern in Verbindung gebracht.

Den Part des Teufels scheint in "All Souls" zunächst der von Mulder verdächtigte Freikirchen-Geistliche Father Gregory zu übernehmen. Gleich in der ersten Szene, in der er eingeführt wird, will er das Mädchen Paula mitnehmen und reagiert passiv-aggressiv, als der Sozialarbeiter Starkey mit bürokratischen Argumenten dazwischenkommt. Am Rückspiegel seines Autos hängt ein umgekehrtes Kreuz (das Symbol wird oftmals, wie Mulder ausführt, als satanistisches Zeichen und Sakrileg gegen die Kirche angesehen - Scully korrigiert diese Interpretation später; unter den Anhängern des Apostel Petrus gilt das umgekehrte Kreuz als Zeichen höchster Verehrung Jesu), und am Eingang zu seiner Kirche steht ein Schild mit der Aufschrift "the darkness is upon us". Das alles kommt etwas zwielichtig herüber und erweckt den Eindruck, dass Father Gregory der Vertreter der dunklen Seite ist. Tatsächlich ist der Bösewicht hier aber nicht Father Gregory, sondern der anfänglich unverdächtig daherkommende Sozialarbeiter Starkey, der nur die Interessen der Mädchen zu vertreten scheint - in Wirklichkeit ist er ein Dämon in menschlicher Gestalt. (Es ist bereits das zweite Mal nach der Biologielehrerin in "Die Hand, die verletzt", dass der Teufel in Berufen, die eher etwas mit Fürsorge und Schutz zu tun haben, agiert.) Father Gregory hingegen will die Mädchen nur beschützen, auch wenn er, was ihr Schicksal angeht, die falschen Schlussfolgerungen zieht (nicht der Teufel, sondern der Seraph ist für ihren Tod verantwortlich). Der Showdown in Father Gregorys Kirche erweckt dann den Eindruck, dass Starkey die Kirche nicht selbst betreten kann, um das vierte Mädchen zu holen, sondern Scully dafür braucht und sie benutzen wollte, damit sie sie zu ihm bringt.

Scully wird in "All Souls" nach "Emily" zum zweiten Mal mit der Entscheidung konfrontiert, ein Mädchen - hier die vierte Schwester - sterben zu lassen. Zu ihrem nun schon hinlänglich bekannten Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft kommt hier noch der zwischen ihrem Glauben und ihren Verpflichtungen als FBI-Agentin und Ärztin hinzu. Wie schon "Emily" berührt "All Souls" das Thema der passiven Sterbehilfe, und da es beidesmal um Kinder geht, verwundert es etwas, dass das in den 90ern nicht höhere Wellen geschlagen hat (zumindest finde ich bis auf vereinzelte kritische Anmerkungen in Reviews keine Hinweise auf irgendwelche größeren Proteste dazu). Das Trauma, das Scully im "Emily"-Zweiteiler durchlebt, wird hier in "All Souls" erstmals wirklich thematisiert. Die Sünde, wie sie es in ihrer Beichte bezeichnet, ist, die vierte Schwester sterben zu lassen - als das Mädchen dem Tod entgegengeht, sieht Scully eine Vision von Emily, die sie anfleht: "Mommy, please let me go!" Die Inszenierung, wie Scully diesen Konflikt in den Beichtszenen nacherlebt und aufarbeitet, fand ich sehr gelungen, woran Andersons schauspielerische Leistung wieder einmal großen Anteil hat.

Das ursprüngliche Drehbuch zu "All Souls" von Dan Angel und Billy Brown wurde den Produktionsnotizen zufolge von Shiban und Spotnitz derart massiv umgeschrieben, dass es praktisch nicht mehr wiederzuerkennen war. Vor allem die Bezüge zum "Emily"-Zweiteiler wurden von den letzteren nachträglich eingebaut, um Scully mit der Aufarbeitung des Todes ihrer Tochter zu konfrontieren. Man kann davon ausgehen, dass auch die Bezüge zur Mythologie von Shiban und Spotnitz stammen, oder eventuell auch von Carter selbst. Im Hinblick auf die schauspielerischen Leistungen sticht wieder einmal Gillian Anderson heraus, aber auch die Gastschauspieler Glenn Morshower in der Rolle des Teufels im Sozialarbeitergewand und Jody Racicot als Father Gregory haben mir gut gefallen. An der Umsetzung gibt es wieder einmal nichts auszusetzen. Regisseur Allan Coulter ist eine sehr atmosphärische Inszenierung gelungen: Schon der Teaser hat einige Bilder, die hängenbleiben - die Taufe, die an "The Exorcist" erinnert; das erste Opfer im Regen kniend. Sehr gut inszeniert sind auch die Beichtszenen und die Bilder, die den Seraph zeigen. Ich muss sagen, ich hatte "All Souls" eigentlich gar nicht mehr so auf dem geistigen Schirm (geschweige denn, dass ich die mythologischen Hintergründe beim ersten Durchlauf verstanden hätte), aber es ist wirklich eine sehr gut gelungene Episode. Ich vergebe gute fünf Petruskreuze dafür.
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Re: Akte X - Staffel 5

Beitragvon nevermore » Do 27. Jun 2019, 21:44

Folge 18, Staffel 5: "Die Pine-Bluff-Variante / The Pine Bluff Variant"

Drehbuch: John Shiban
Regie: Rob Bowman



Mulder wird als Undercover-Agent in eine Terrormiliz eingeschleust, die im Besitz einer gefährlichen biologischen Waffe ist. Das Ziel ist die Festnahme des Gruppenführers. Bei einem ersten Versuch der Miliz, den Organismus in einem Kino zu verbreiten, kommen mehrere Menschen ums Leben - die Gruppe plant jedoch etwas weitaus Größeres, nämlich die Waffe über Geldscheine in Umlauf zu bringen. Als sein Kontaktmann in der Gruppe misstrauisch wird, wird Mulder in einen Machtkampf zwischen den beiden führenden Leuten der Miliz verwickelt.

"The Pine Bluff Variant" ist wieder eine dieser vereinzelten Akte X-Episoden, die nichts mit paranormalen Phänomenen oder Serienmördern zu tun haben, sondern gänzlich weltlichen Kriminalfällen nachgeht. In diesem Fall geht es um eine Terrormiliz, die New Spartans, die im Besitz einer Biowaffe ist: Der Titel "The Pine Bluff Variant" bezieht sich auf ein Biowaffenarsenal, das sich im Kalten Krieg in Pine Bluff, Arkansas, befand und eine Vorform der Biowaffe, um die es in der Episode geht, enthielt.

Aber der Reihe nach: Mulder und Scully nehmen an einem gemeinsamen Einsatz von CIA und FBI teil, bei dem der Terrorverdächtige Jacob Haley wegen Waffenhandels festgenommen werden soll. Als er flüchten kann, glaubt Scully, Mulder dabei beobachtet zu haben, wie er dem Mann zur Flucht verhalf. Einen Gesprächsversuch blockt Mulder ab; als Scully ihrem Verdacht nachgeht, sieht sie, wie sich Mulder unter falschem Namen in einem Motel einquartiert mit dem Terroristen trifft. (Das Motel trägt den Namen Aaron Burr Motel, benannt nach dem Vizepräsidenten der Jefferson-Administration, der 1807 des Hochverrats verdächtigt und später freigesprochen und rehabilitiert wurde.) Als Mulder und der Terrorist das Motel verlassen und Scully ihnen folgen will, wird sie von Skinners Leuten von der Straße abgedrängt und in Gewahrsam genommen, woraufhin man sie über Mulders geheime Mission aufklärt: Er wurde in die Gruppe eingeschleust, nachdem diese infolge seiner Teilnahme am UFO-Symposium in "Patient X" mit ihm Kontakt aufgenommen hatte: Die Terroristen hielten ihn aufgrund seiner offen geäußerten Vermutung, in der US-Regierung gäbe es eine Verschwörung gegen das amerikanische Volk, für einen Gleichgesinnten im FBI, den sie für ihre Zwecke einspannen wollten.

Der Rückgriff auf Mulders Skeptiker-Phase ist ein gelungenes Mittel, die Kontinuität zu wahren und gleichzeitig eine Verknüpfung zur Mythologie der Serie herzustellen. Dass man Scully über Mulders Mission im Unklaren lässt, wirft einige Fragen auf. Ihr anfängliches Misstrauen gegenüber Mulder machte eher den Eindruck, als glaubte sie, er würde wieder in irgendeine Dummheit hineinlaufen, als dass sie ihn ernsthaft des Hochverrats verdächtigte. Die Anweisung, ihr nichts zu erzählen, kam von Skinner oder dem Generalstaatsanwalt; es ist dennoch erstaunlich, dass Mulder sie nicht einfach übergangen hat. Möglicherweise aus Besorgnis um Scullys Sicherheit, vielleicht, weil er nicht wollte, dass sie sich Sorgen macht. Möglicherweise spielte auch Schamgefühl eine Rolle, darüber, dass aufgrund seiner Aussagen auf dem Symposium eine Terrormiliz einen möglichen Verbündeten in ihm sah. Durch die Verknüpfung mit dieser Skeptikerphase hinterlässt "The Pine Bluff Variant" etwas den Eindruck, dass die Serie Mulder für seinen "Irrweg" büßen lassen will; sein offensives Auftreten auf dem Symposium hat ihn erst in die Lage gebracht, jetzt undercover mit Terroristen kooperieren zu müssen, mit Leuten, die ihre Aktionen mit eben der Anti-Regierungsparanoia begründen, die er selber vertritt. Auch ohne zwischen die Fronten der Anführer dieser Gruppe zu geraten, gefoltert zu werden und eine Bank überfallen zu müssen, ist es keine einfache Situation für ihn.

Während Mulder sich mit den Terroristen auseinandersetzen muss, untersucht Scully - nunmehr über die Situation aufgeklärt - die Biowaffe, mit der die Miliz zunächst einen Anschlag auf ein Kino in Ohio verübte. Vierzehn Menschen wurden bei diesem Attentat auf grausige Weise getötet. Scully wird gesagt, die Biowaffe stamme von den Russen, aber als sie selbst Ermittlungen anstellt, findet sie heraus, dass es eine amerikanische Entwicklung ist. Sie schließt daraus, dass das Ganze inszeniert ist und man Mulder auf eine Selbstmordmission geschickt hat. Verantwortlich, wie sich herausstellt, ist der Anführer der Terrormiliz Bremer, selbst ein CIA-Agent, der im Auftrag des Generalstaatsanwalts die Terrormiliz benutzt, um Tests mit den Biowaffen an der amerikanischen Bevölkerung durchzuführen. Der Bankraub diente dazu, an große Mengen von Bargeld zu kommen, über die der Erreger in Umlauf gebracht werden sollte - was dank Scullys Eingreifen gerade noch verhindert werden kann. Das FBI blieb über den Hintergrund im Dunkeln, auch Skinner wusste nichts.

Dass die Regierung die eigene Bevölkerung für Experimente benutzt, ist weder in Akte X neu ("Blood", "Wetwired", "Zero Sum", um nur drei zu nennen), noch ohne realhistorische Präzendenz (siehe z.B. das Projekt MKULTRA). Auch Berichte über Experimente mit Biowaffen hat es schon gegeben (siehe z.B. hier und hier). In "The Pine Bluff Variant" scheint der Generalstaatsanwalt höchstselbst der Drahtzieher zu sein; seine Rolle erinnert an die des Rauchers, dessen Argumentation er auch übernimmt, als ihn Mulder wegen der Experimente konfrontiert: "What do you hope to accomplish, Agent Mulder, as a whistle-blower? To mobilize a civil rights action? To bring down the federal government? To do the very work that group you were a part of is so bent on doing? What do you want? Laws against those men, or laws protecting them?" - "I want people to know the truth." - "Well sometimes our job is to protect those people from knowing it." Die Rolle seines Erfüllungsgehilfen August Bremer, des CIA-Agenten, der es bis zum Anführer der Gruppe gebracht hat, bleibt etwas im Dunkeln: Hat Bremer eine bereits existierende Terrorzelle infiltriert und sich durch die Ränge nach oben gearbeitet - oder wurde womöglich sogar die Zelle von ihm erst geschaffen, um im Auftrag der Regierung Operationen unter falscher Flagge durchführen zu können? Es ist unklar, wie weit die Verschwörung ging.

"The Pine Bluff Variant" ist, obwohl sie nichts mit paranormalen Ereignissen zu tun hat, eine Episode, die sich durch die Verknüpfung mit dem UFO-Symposium in "Patient X" und den Themen um Experimente der Regierung gut ins Akte X-Universum integriert. Dass Bremer für die CIA arbeitet, war unvorhersehbar, so ganz logisch erscheint mir sein Verhalten an einigen Stellen aber nicht. Vor allem ist mir unverständlich, warum der skrupellos das Kinopublikum ermordende Bremer am Ende Mulder verschont, obwohl er damit rechnen muss, dass der sein Wissen nicht für sich behalten wird. Etwas ärgerlich fand ich auch das naive Verhalten der Agenten, vor allem Scullys, ein Gespräch in Mulders Wohnung zu führen, obwohl sie schon zweimal herausfinden mussten, dass diese Wohnung abgehört bzw. beobachtet wird. Gut gefallen haben mir die schauspielerischen Leistungen v.a. David Duchovnys, der den unter Hochspannung stehenden Mulder großartig darstellte. Ebenso Gillian Anderson vor allem in der Szene, in der sie mit dem Zorn der Gerechtigkeit den Generalstaatsanwalt Leamus konfrontierte ("You knew about this all along. You knew about this the whole time!"). Die Selbstgerechtigkeit des Letzteren wiederum wird von Sam Anderson hervorragend dargestellt. Auch von den Effekten und der Maske, was die Opfer der Biowaffe angeht, sowie von der Inszenierung her ist an der Episode nichts zu bemängeln: Besonders die Bankraub-Szenen und Mulders vermeintlicher "Gang zum Schaffott" sind hier hervorzuheben. Ich vergebe insgesamt vier Dracula-Masken dafür.
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Re: Akte X - Staffel 5

Beitragvon nevermore » Sa 29. Jun 2019, 18:08

Folge 19, Staffel 5: "Folie à Deux / Folie à Deux"

Drehbuch: Vince Gilligan
Regie: Kim Manners



Ein Mitarbeiter einer Telemarketing-Firma in Illinois ist überzeugt, dass sein Chef ein Monster ist, das seine Angestellten in willenlose Zombies verwandelt. Der Mitarbeiter sendet übers Lokalradio Drohbotschaften, in denen er die Bevölkerung warnt. Als Mulder der Firma einen Besuch abstattet, wird er mit der Belegschaft und dem Firmenchef von dem Mitarbeiter in Geiselhaft genommen. Mulder hält den Mann zunächst für einen Verrückten, bis er dann selber den Chef als Monster sieht.

Die titelgebende psychologische Störung "Folie à Deux", auch induzierte wahnhafte Störung genannt, gibt es tatsächlich, es handelt sich dabei um die Übernahme einer Wahnvorstellung durch eine zunächst nicht betroffene andere Person (diese wird also sozusagen "angesteckt"). In der Akte-X Episode ist der Titel doppeldeutig; es ist zunächst Mulder, der nach einer Weile das vom Telemarketing-Mitarbeiter Gary Lambert behauptete Monster sieht, später dann in der Episode ist es auch Scully, die das Monster sieht. Die Folge hat eine gewisse Ähnlichkeit mit "Demons" in Staffel 4, wo Mulder ebenfalls einen mentalen Zusammenbruch hatte, und man lange Zeit nicht sicher war, was er sich einbildete und was tatsächlich geschehen ist.

Die Firma VinylRight ist ein Bauunternehmen, das in einem Großraumbüro ein Call-Center fürs Telemarketing betreibt. Der Chef Greg Pincus wirkt eigentlich ganz normal, aber einer seiner Mitarbeiter, Gary Lambert, ist überzeugt, dass dies nicht seine wirkliche Gestalt ist, sondern dass Pincus in Wahrheit ein insektenartiges Monster ist. Über eine lokale Radiostation verbreitet er eine Botschaft, in der er die Bevölkerung warnt und Gewalt androht. An einem anderen Standort des Unternehmens gab es bereits einige Jahre zuvor einen ähnlichen Vorfall. Skinner beauftragt einen schlecht gelaunten Mulder mit dem Fall ("Monsters. I'm your boy. [...] have I finally reached that magic point in my career where every time somebody sees Bigfoot or the Virgin Mary on a tortilla I get called to offer my special insight on the matter?"), und kurz nachdem Mulder in dem Unternehmen eintrifft, nimmt Gary ihn mit der gesamten Belegschaft in Geiselhaft. Er unterteilt die Geiseln in solche, die "sauber" sind, und solche, die bereits vom Monster, seinem Chef, in Zombies verwandelt worden sind. Als er eine der Geiseln erschießt, stürmt ein SWAT-Team das Gebäude, und Gary wird getötet.

Nomalerweise wäre der Fall hier abgeschlossen, aber Mulder hat während der Geiselnahme Pincus ebenfalls in dessen wahrer Gestalt, der des Monsters, gesehen. Er stellt weitere Nachforschungen an, woraufhin er von einer VinylRight-Mitarbeiterin wegen Belästigung angezeigt wird, und als er bei der darauffolgenden Befragung in Skinners Büro beinahe Pincus erschießt, endet dies damit, dass er in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wird. Obwohl Scully das Ganze für Wahnvorstellungen hält, steht sie zu ihrem Partner, und auf dessen unablässiges Drängen hin findet sie schließlich bei der Obduktion der erschossenen Geisel Bisswunden in dessen Nacken, und ein nicht zu identifizierendes Gift. Außerdem erweckt die Leiche den Eindruck, dass der Mann schon drei Tage vor der Geiselnahme gestorben ist. Als Scully daraufhin Mulder im Krankenhaus besucht, wird sie zunächst von einer Schwester aufgehalten, in der nun auch sie einen Zombie erkennt. Der Ausdruck von Unglauben und Akzeptanz auf Scullys Gesicht, als sie die Schwester als Zombie sieht, ist wieder einmal phänomenal gespielt. Sie kommt gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass Mulder vom Monster gebissen wird.

"Folie à Deux" ist eine klassische Monster-Horrorgeschichte, die einen gesellschaftskritischen Unterton hat, und auch als eine Betrachtung der Beziehung von Mulder und Scully funktioniert. Gary behauptet, sein Chef sei ein Monster, der seine Mitarbeiter in Zombies verwandeln will: "Only you can't see that because he's clouded all your minds but he means to take us all one by one – harvest our souls, make us into zombies, robots made out of meat." Schaut man sich das an einen Käfighennenstall erinnernde Großraumbüro an, so kann man glauben, dass einen dieser Job wahnsinnig oder zum Zombie machen kann. "He wants us all like that – insects, not people .. mindless drones. He wants to take away who we are … to control us … so we’ll be his eyes and ears and spy on each other and help him do his dirty work!" Es ist eine ziemlich unverhüllte Anklage ausbeuterischer und menschenunwürdiger Zustände in der modernen Arbeitswelt.

Der Protagonist der Folge, Gary Lambert, weist wieder einmal so einige Gemeinsamkeiten mit Mulder auf. Er ist ein einsamer Mann, der glaubt, zu wissen, wie die Welt wirklich funktioniert - was aber außer ihm keiner versteht, und deshalb glaubt man ihm nicht. Er scheint ein gutes Verhältnis mit seiner Kollegin Nancy zu haben, und es passiert, nachdem sie zum Zombie verwandelt wird, dass er denn Halt verliert. Ähnlich ist Scully Mulders einziger Halt, im Krankenhaus sagt er zu ihr: "Scully, you *have* to believe me. Nobody else on this whole damn planet does or ever will. You're my one in … five billion." Man hatte immer wieder in der Serie den Eindruck, dass Scully die einzige ist, die Mulder bei Sinnen hielt, und es ist vermutlich kein Zufall, dass es ein Fall ist, den er ohne sie untersucht hat, der ihn schließlich endgültig in die Irrenanstalt bringt. Selbst wenn Scully ihm nicht glaubt, hört sie ihm normalerweise wenigstens zu, und überprüft, ob an seinen Vermutungen etwas dran sein könnte. Für Scully selbst bedeutet das aber, dass sie immer stärker in Mulders Welt hineingezogen wird, und "Folie à Deux" bringt dies auf den Punkt, indem sie am Ende das Monster selber sieht, und damit die Welt mit den Augen ihres Partners sieht. Als Mulder sie am Ende fragt, was sie Skinner erzählt habe, sagt sie: "The truth, as I understand it. Folie à Deux. A madness shared by two."

Die Episode lässt einen relativ lange im Unklaren, ob Gary nur etwas gesehen hat, weil er verrückt ist, oder ob er verrückt ist, weil er etwas gesehen hat. Die Folge hält sich nicht damit auf, zu erklären, was das Monster eigentlich ist - es wird nur klar gemacht, dass es sich als Mensch tarnen kann, so dass man es unter normalen Umständen nicht sieht ("it's hiding in the light"). Zumeist wird es nur durch insektenartige Geräusche und Schatten und Schemen angedeutet - was die Angelegenheit noch unheimlicher macht. Besonders die Szenen im Krankenhaus, als man vor dem Fenster in der Dunkelheit die Schatten von Bäumen sieht und nicht erkennbar ist, ob es nun Äste sind oder die Beine des Monsters, sind fantastisch inszeniert. Das nur schemenhaft zu sehende Monster ist einer der Gründe, warum "Folie à Deux" als Horrorepisode so gut funkioniert; ein weiterer sind die transportierten Themen, die erschreckend sind: Die Vorstellung, dass man sich einer Sache sicher ist, einem aber keiner glaubt; der Alptraum, dass man an ein Krankenhausbett gefesselt einem Monster und einer zombifizierten Schwester ausgeliefert ist (die Szene, als die Krankenschwester hereinkommt und der gefesselte Mulder erkennt, dass sie ein Zombie ist, ist wirklich erschreckend); die Idee, dass Wahnvorstellungen ansteckend sind und sich wie eine Infektion ausbreiten können. Szenen wie die mit dem völlig durchgedreht erscheinenden Mulder in Skinners Büro und die Mulder-Scully-Interaktionen heben die Episode über eine gelungene Horrorstory hinaus. Mir hat "Folie à Deux" sehr gut gefallen, ich vergebe knappe fünf Call Center-Anrufe dafür.
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