Drehbuch: Vince Gilligan
Regie: Michael Watkins
Ein New Yorker Polizeifotograf ist bereits seit Jahrzehnten auffällig oft als erster, meist schon vor der Polizei, an Tatorten. Als von einem Tatort zwei Fotos mit unterschiedlichen Zeitstempeln auftauchen, von denen eines unmittelbar zur Tatzeit und ein zweites eine Stunde später nach Eintreffen der Polizei aufgenommen wurde, gerät er in Verdacht, selber etwas mit den Todesfällen zu tun zu haben. Kersh beauftragt Scully, sich des Falls anzunehmen, weist ihr aber einen anderen FBI-Agenten als Partner zu. Als Mulder ohne Kershs Wissen die Hintergründe des Fotografen recherchiert, erweist sich, dass der anscheinend schon seit über hundert Jahren tätig ist.
Der Titel der Episode, "Tithonus", stammt aus einem griechischen Mythos, in dem es um einen Mann geht, der von Zeus das Geschenk der Unsterblichkeit erhalten hat und am Ende nur noch sterben wollte. Sir Alfred Tennyson hat ein Gedicht über die Figur geschrieben, das ebenfalls als Einfluss zitiert wird. Möglicherweise hat der Fotograf Alfred Fellig, die Hauptfigur in "Tithonus", seinen Vornamen von ihm. Sein Nachname stammt jedenfalls von einem berühmt-berüchtigten New Yorker Fotografen namens Arthur Fellig, der in den 1930er und 40er Jahren aktiv war und ebenfalls eine Begabung hatte, immer als erster und oftmals schon vor der Polizei an Tatorten zu sein.
Die Frage, ob ewiges Leben ein Segen oder ein Fluch ist, und welche Auswirkungen es auf einen Menschen hat, hat schon diverse Bücher, Filme und TV-Serien beschäftigt. Neben Jonathan Swifts "Gullivers Reisen" fällt mir aus dem Metier der TV-Serien spontan Star Trek Voyagers "Deathwish" ein - eine der wenigen Voyager-Folgen, die bei mir dauerhaft hängen geblieben sind. Fellig ist seiner eigenen Aussage nach unsterblich geworden, als er an Gelbfieber sterbend den Tod nahen sah und statt ihm ins Gesicht zu sehen wegsah - eine Krankenschwester, die an seinem Krankenlager saß, starb an seiner Stelle. Seines Lebens schon seit langer Zeit überdrüssig versucht er seit Jahrzehnten, dieselbe Situation wieder herzustellen und eilt an Orte, an denen jemand stirbt, um wie die Schwester damals bei ihm dessen Platz einzunehmen.
Beim FBI erweckt Felligs wiederholte Anwesenheit an Tatorten jedoch einen ganz anderen Verdacht: In mehreren Fällen hat Fellig ein Opfer zweimal fotografiert, eine Aufnahme davon jeweils lange bevor die Polizei am Tatort eintraf. Ein auftrebender junger New Yorker FBI-Agent namens Ritter und Assistent Director Kersh glauben, dass Fellig an den Todesfällen nicht unschuldig ist; Ritter hält Fellig für einen Serienmörder und will mit seiner Festnahme seine Karriere voranbringen. Kersh weist Scully an, zusammen mit Ritter den Fall zu untersuchen, Mulder aber außen vor zu lassen: "Agent Mulder's a lost cause. I'm taking the chance you're not. It's you and Ritter. Do not let me down." Als kurz darauf ein Mann erstochen wird und Felligs Fingerabdrücke auf der Tatwaffe gefunden werden, lässt Ritter Fellig festnehmen. Es stellt sich jedoch heraus, dass Fellig selber auch eine Stichwunde im Rücken hat und weitere Fingerabdrücke, die einem verurteilten Mörder gehören, auf der Waffe sind. Trotz Ritters Protesten lässt Scully Fellig gehen. Mulder, der heimlich den Hintergrund von Fellig überprüft hat, findet heraus, dass Fellig unter verschiedenen Namen bereits seit über 100 Jahren als Fotograf tätig ist und gegenwärtig 149 Jahre alt ist.
Als Scully bei einer nächtlichen Überwachung Fellig konfrontiert, erzählt dieser ihr seine Geschichte. Er behauptet, Unsterblichkeit erlangt zu haben, als er an Gelbfieber erkrankt sich weigerte, dem Tod ins Auge zu sehen, und an seiner Stelle eine Krankenschwester gestorben ist. Seit geraumer Zeit versucht er zu sterben - aber egal, ob er sich vergiftete, sich die Pulsadern aufschnitt, oder von einer Brücke sprang, nichts funktionierte. Deshalb versucht er, den Tod zu fotografieren: Er hat im Laufe der Jahre gelernt, vorherzuahnen, wann jemand stirbt, und glaubt, wenn er endlich dem Tod ins Gesicht sehen kann, kann er sterben. Es kommt, wie es kommen muss - Agent Ritter taucht auf, will Fellig erschießen, aber die Kugel durchdringt Felligs Körper und trifft Scully. Als Scully im Sterben liegt, sagt ihr Fellig, sie solle den Tod nicht ansehen - und nun ist ihm endlich gelungen, die Situation mit der Krankenschwester nachzustellen; es ist diesmal Fellig, der an Scullys Stelle stirbt.
Die Unterhaltungen zwischen Scully und Fellig sind der Kern der Episode, die Szenen in Felligs Fotostudio haben Züge eines Kammerspiels. Scully stand schon öfter an der Schwelle des Todes und es fällt ihr schwer zu verstehen, warum jemand sterben will: "How can you have too much life? There's too much to learn, to experience. Most people want to live forever." - "Most people are idiots," entgegnet ihr Fellig. Als Fellig dann andeutet, dass sie als nächste sterben wird, reagiert sie ärgerlich und bestimmt: "I'm not going to die!" Sie überlebt tatsächlich, erholt sich sogar erstaunlich schnell, was aufgrund Felligs persönlicher Geschichte und im Zusammenhang mit Clyde Bruckmans Vorhersage (der Hellseher aus der Staffel 3-Episode "Clyde Bruckman's Final Repose"), Scully werde nicht sterben, im X-Philes-Fandom zu heftigen Spekulationen führte, ob Scully nun unsterblich sei.
Auch ansonsten gibt es einige Verbindungen zwischen "Tithonus" und Darin Morgans Staffel 3-Episode, und den Figuren Clyde Bruckman und Alfred Fellig. Der hellsichtige Bruckman wusste, wie Menschen sterben werden, aber nicht wann. Fellig hingegen weiß, wenn der Tod eines Menschen unmittelbar bevorsteht, weiß aber nicht, wie er oder sie sterben wird ("The 'how' is always a surprise. I... I just always know 'when.'"). Bruckman konnte seine Visionen vom Tod nicht kontrollieren und beging am Ende Selbstmord, Fellig jagt seit Jahrzehnten dem Tod nach und kann nicht sterben, sich nicht einmal umbringen. Beide leiden unter ihrer außergewöhnlichen Begabung, die sie am liebsten los hätten. Während Bruckman jedoch bei allem Zynismus noch Mitgefühl für seine Mitmenschen hatte und helfen wollte, ist Fellig dies in all den Jahren völlig abhanden gekommen. Er beneidet diejenigen, deren Tod bevorsteht ("Lucky bastards. Every one of them."), und wie Mulder später herausfindet, hat er 1929 auf seiner Jagd nach dem Tod sogar zwei Krankenhauspatienten getötet. (Auf einer stärker metaphorischen Ebene kann man die Figur Fellig auch als eine Kritik an der ausufernden Paparazzi-Kultur der 90er lesen, die besonders durch den Tod von Lady Diana Spencer 1997 ins Kreuzfeuer geraten ist. Auch wenn es Fellig nicht um Ruhm, sondern um ein anderes Anliegen geht - er ist ein parasitärer Tatort-Fotograf, der auf der Jagd nach dem perfekten Foto ist und dem das Leben der Fotografierten völlig egal ist.)
Wie schon in "Clyde Bruckman's Final Repose" ist es Scully, die zu Fellig durchdringt und versucht, ihn zu verstehen. Anders als in einigen anderen Episoden ist sie in "Tithonus" nicht die sture Skeptikerin, sondern sie nähert sich dem Fall mit offenen Augen und offenem Geist, und fängt an Fragen zu stellen, als sie auf Hinweise stößt, die nicht zusammenpassen. Man kann sich fragen, was hier auf den Einfluss der Zusammenarbeit mit Mulder und die Arbeit an den X-Akten zurückzuführen ist. Einerseits hat diese Arbeit sicherlich dazu geführt, dass Scully genügend Wunderliches gesehen hat, um Felligs Geschichte nicht einfach abzutun. Andererseits ist es möglicherweise gerade die Abwesenheit von Mulder in diesem Fall, die sie so offen sein lässt: Während sie in der Zusammenarbeit mit Mulder durch dessen abgefahrene Theorien quasi gefordert ist, als rationaler Gegenpol zu agieren, ist hier das Gegenteil der Fall: Der ihr als Partner zugewiesene Ritter ist einzig und allein daran interessiert, den Fall abzuschließen; es scheint ihm fast schon egal zu sein, ob er dabei den Richtigen hinter Gitter bringt. Zwar bestreitet Scully geraume Zeit lang, dass der Fall eine X-Akte ist, und will auch von Fellig wieder wissenschaftliche Beweise ("If this is true give me something in the way of proof. Help me find some science that I can hang this on." - "It has nothing to do with science. Someone took my place.") Aber sie ist nicht bereit, sich Ritters Pragmatismus zu beugen, der nur den Fall abschließen will, und ihre Antwort auf Ritters Kommentar, ob sie nicht wolle, dass Fellig hinter Gitter kommt, spricht Bände: "I thought we were looking for the truth."
"Tithonus" ist eine eher ruhige, aber dennoch sehr spannende und auch sehr düstere Episode, die sich zudem durch sehr viel Tiefgang auszeichnet - etwas, das Akte X seit dem Umzug nach Kalifornien etwas abhanden gekommen ist. Die Spannung speist sich nicht aus Action-Szenen oder Verschwörungen, sondern daraus, dass man lange im Dunkeln gelassen wird, was es mit Alfred Fellig auf sich hat. Schon im Teaser, als er der jungen Frau nachstellt, die in einem Bürogebäude Post verteilt, wird ein falscher Eindruck erweckt, so dass man sich von Anfang an fragt, warum er diese Fotos schießt. Gut gemacht ist auch, wie man - aus Felligs Perspektive - die Menschen, die sterben werden, nicht in Farbe, sondern in Schwarz-Weiß-Tönen sieht. Auch die schauspielerische Inszenierung und musikalische Untermalung ist hervorragend gelungen. Vor allem lebt "Tithonus" aber von der Thematik und der Fragestellung. Es ist eine Episode, die alles hat, was eine Monster-of-the-Week-Folge in Akte X auszeichnet, und eine der besten Episoden der sechsten Staffel, ein würdiger Abkömmling von "Clyde Bruckman's Final Repose" und m.M.n. Vince Gilligans bisher bestes Drehbuch. Ich vergebe sechs Fotografenlizenzen dafür.