Akte X - Staffel 4




Alles zu Chris Carters Mystery-Serien Akte X, MillenniuM und The Lone Gunmen

Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » So 3. Feb 2019, 16:04

Die dritte Staffel der X-Akten ist eine der konstantesten und wird oft als mit die beste Staffel genannt. Demgegenüber geht es in Staffel 4 wieder deutlich experimenteller zu. Dies hat mit der Situation hinter den Kulissen zu tun. Chris Carter war mit seiner neuen Serie "MillenniuM" sowie mit der Vorproduktion des ersten Akte X-Films "Fight The Future" beschäftigt. Die Drehbuchautoren Morgan & Wong kehrten für vier Episoden zurück, allerdings nur, um den Übergang zu einem neuen Kernteam von Autoren zu erleichtern. Im Verlauf der Staffel verließen Glen Morgan, James Wong und Howard Gordon die Show, das neue Kerntrio bestand aus Vince Gilligan, John Shiban und Frank Spotnitz.

Als Resultat wirkt Staffel 4 insgesamt weniger homogen als Staffel 3, ist m.M.n. aber deswegen nicht deutlich schwächer. Vor allem mit "Home", "The Field Where I Died" und "Musings of a Cigarette Smoking Man" hat die Staffel sehr experimentelle Folgen vorzuweisen. Auch erfährt man mehr über das Schwarze Öl, es gibt ein Wiedersehen mit Max Fenig und für Scully beginnt ein sehr wichtiger persönlicher Handlungsbogen.

Mytharc-Episoden (kursiv die absolut unerlässlichen):

4X01: Herrenvolk
4X07: Musings of a Cigarette-Smoking Man
4X09: Tunguska
4X10: Terma
4X15: Memento Mori

4X17: Tempus Fugit
4X18: Max
4X21: Zero Sum
4X23: Demons
4X24: Gethsemane
nevermore
Administrator
 
Beiträge: 5117
Registriert: Do 12. Jun 2008, 19:43
Wohnort: Outback Stuttgart

von Anzeige » So 3. Feb 2019, 16:04

Anzeige
 

Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » So 3. Feb 2019, 16:05

Folge 1, Staffel 4: "Herrenvolk / Herrenvolk"

Drehbuch: Chris Carter
Regie: R.W. Goodwin



Mulder und Jeremiah Smith können vor dem Kopfgeldjäger flüchten und Jeremiah bringt ihn zu einer Plantage in Kanada, auf der geklonte Kinder arbeiten - unter ihnen auch ein Klon von Mulders Schwester Samantha. In der Zwischenzeit untersucht Scully die Arbeit der Jeremiahs in der Sozialversicherungsbehörde, und der Raucher stellt X eine Falle.

Was den Titel "Herrenvolk" angeht, kann ich nur vermuten. Er bezieht sich eindeutig auf das Nazi-Konzept der Herrenrasse. In einigen Reviews ist davon die Rede, dass sich dies auf die Hybridenklone bezieht. Das kann ich jedoch nicht glauben, da diese - wie in dieser Episode wieder bestätigt - nur das Äquivalent von Arbeitsdrohnen sind. Als Mulder Jeremiah auf den Zweck der Farm anspricht und fragt: "The larger plan? You mean colonization", antwortet Jeremiah: "Hegemony, Mister Mulder. A new origin of species." Um die Klone kann es sich hierbei m.M.n. nicht handeln, die sind nur die Handlanger für die eigentlichen Kolonisten - als eine Art Sklavenrasse vorgesehen, die den neuen Herren dienen sollen, weswegen sie sich auch gegen diese Pläne auflehnen. Im Unterschied zu den Hybriden (sowohl den Klonen als auch gentechnisch hybridisierten Menschen) sind die eigentlichen Kolonisten genetisch rein
vermutlich ist der Name der eigentlichen außerirdischen Spezies nicht von ungefähr "Purity"
und alle "unreinen" sind als Diener vorgesehen. Ich bin deshalb beim Kollegen von Eat The Corn, der glaubt, dass sich die Herrenrasse auf die eigentlichen Kolonisten bezieht. So ganz klar wird das in der Episode aber nicht. (Etwas rätselhaft ist für mich auch die Tagline der Episode, die das übliche "The Truth Is Out There" ersetzt: "Everything dies". Eine veränderte Tagline kommt nur sehr selten vor und normalerweise hat sie eine erhebliche Bedeutung, die sich mir hier aber zumindest bisher nicht wirklich erschließt.)

Mulder, der mit Jeremiah Smith in einer packend inszenierten Verfolgungsjagd den Kopfgeldjäger außer Gefecht setzen und ihm entkommen kann, wird nun endgültig vor die Wahl gestellt, mit Jeremiah zu seiner Mutter zu gehen und diese zu heilen (auf die Gefahr hin, im Krankenhaus in eine Falle zu tappen und beide zu verlieren) oder mit Jeremiah zu gehen, der ihm die Wahrheit über das Projekt zeigen und ihn zu seiner Schwester Samantha führen will. Mulder entscheidet sich, mit Jeremiah zu gehen.

Nach stundenlanger Fahrt, bei der ihnen auch noch das Benzin ausgeht, und anschließender mehrstündiger Wanderung hat Mulder aus Jeremiah offenbar immer noch nichts herausgebracht, zumindest erscheint er bei der Ankunft an der Farm so ahnungslos wie beim Aufbruch. Was die beiden eigentlich die ganze Zeit geredet oder sonst getan haben, ist eines der Rätsel der Episode; schon zu Ende von "Talitha Cumi" hörte man von Jeremiah ständig "I'll explain everything", ohne dass er aber einmal etwas erklärt. (Ebenso ist mir schleierhaft, weshalb man nicht mit dem Wagen des getöteten Elektrikers weitergefahren ist, der da verlassen an der Straße steht.) Auf der Bienenfarm finden sie Klone von Kindern vor, darunter eine Gruppe von Samantha-Klonen im Alter, als sie entführt wurde - sie ist jedoch stumm und Jeremiah bezeichnet sie als Drohne. Die Kinder sind dort als Arbeitskräfte beschäftigt. "You're looking at the future, Mr Mulder." In der Nähe der Felder stehen riesige Bienenstöcke; Jeremiah zufolge werden auf den Feldern Blumen gezüchtet. "Being grown for what?" - "Pollen." Nichts davon ergibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen Sinn, aufgeklärt wird das Rätsel um die Bienen erst später in der vierten Staffel und im Film "Fight the Future". Was klar ist, ist dass die Bienen ein für Menschen tödliches Gift tragen; der Elektriker starb unmittelbar, nachdem er gestochen wurde. Dem Aussehen des Elektrikers und des ebenfalls gestochenen Kopfgeldjäger nach zu schließen könnte es sich, wie Eat The Corn vermutet, um einen Pockenvirus handeln.
Vermutlich sind das dieselben Bienen, die in "Zero Sum" auf die Schulklasse losgelassen werden.
Im X-Files Wiki wird darauf verwiesen, dass in "Paper Clip" im Gewächshaus von Klemper eine Biene zu sehen ist, nachdem dieser dort gestorben ist. Mulders Plan, mit Jeremiah und einem der Samantha-Klone zurückzufahren, schlägt fehl, da sie bei diesem Versuch vom Kopfgeldjäger überfallen werden, der im Anschluss vermutlich Jeremiah und Samantha tötet.

Scully, sehr zu ihrem Unmut von Mulder mit dem vermeintlich toten Kopfgeldjäger zurückgelassen, untersucht in der Zwischenzeit die Arbeit der Jeremiahs in der Sozialversicherungsbehörde. Die Ergebnisse ihrer Nachforschungen bringen Licht in das Rätsel des riesigen Aktenarchivs in der Strughold-Mine, auf das Mulder und Scully in "Paper Clip" gestoßen sind. Schon dort stellte Scully fest, dass die Akten mit Hilfe von Daten aus dem WHO-Pockenimpfungsprogramm erstellt wurden. In "Herrenvolk" entdeckt Scully nun, dass die Klone in der Sozialversicherungsbehörde einen Katalog über alle Geimpften erstellen: Mittels Gentechnik wird in dem für die Pockenimpfung verwendeten Kuhpocken-Virus ein Protein derart modifiziert, dass es für jeden Geimpften eine bestimmte, einmalige Aminosäurensequenz enthält, die quasi als Inventarnummer fungiert. Als sie diese Erkenntnisse im FBI präsentiert, wissen die Teilnehmer sichtlich nicht, was sie von all dem halten sollen; trotz der wissenschaftlichen Indizien hält man Scullys Schlussfolgerung eher für eine Verschwörungstheorie.

Einer meiner Lieblingscharaktere segnet in dieser Episode leider das Zeitliche, was sich allerdings spätestens seit "Wetwired" schon angedeutet hatte. X hatte schon da das Misstrauen des Rauchers auf sich gezogen, der ihm nun eine Falle stellt. Nachdem X bereits Scully auf die Spur des Pockenimpfungs-Inventars gebracht hatte, wird er in Mulders Apartment gelockt, und darufhin erschossen - damit ist das passiert, was er geschworen hat zu vermeiden, nämlich wie sein Vorgänger Deep Throat zu enden, weil er Mulder zu nahe gekommen ist. Ich werde ihn vermissen. Seine letzte Nachricht führt Mulder zu Marita Covarrubias, einer Mitarbeiterin bei der UN, und eine neue Informantin.

"Herrenvolk" erreicht m.M.n. nicht die Qualität von "Talitha Cumi". Hervorzuheben ist wieder die schauspielerische Leistung von David Duchovny, der den streckenweise beinahe traumatisiert wirkenden Mulder hervorragend darstellt. Dies gilt nicht nur für die Szenen am Krankenbett seiner Mutter; besonders in den Szenen am Ende seiner Wanderung mit Jeremiah sowie im Büro von Marita Covarrubias wirkt Mulder, als sei er kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig. Auch Gillian Anderson hat mir bei Scullys Präsentation vor ungläubigen FBI-Mitarbeitern gut gefallen. Jedoch empfand ich die Inszenierung selber teilweise etwas schleppend. Ich vergebe fünf Kuhpockenvirus-Proteine dafür.
nevermore
Administrator
 
Beiträge: 5117
Registriert: Do 12. Jun 2008, 19:43
Wohnort: Outback Stuttgart

Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Fr 8. Feb 2019, 15:32

Folge 2, Staffel 4: "Blutschande / Home"

Drehbuch: Glen Morgan & James Wong
Regie: Kim Manners



In Home, Pennsylvania wird eine Babyleiche mit extremen genetischen Abnormitäten aufgefunden. Scully vermutet, dass die Entstellungen aus langwährenden Inzest-Vererbungen stammen, und die Mutter immer noch im Haus der hauptverdächtigen Peacock-Familie gefangen gehalten wird.

Morgan & Wong sind zurück und ihr Comeback hat es in sich - "Home" ist die einzige Episode, die vom Sender Fox nur einmal ausgestrahlt und dann auf Dauer aus dem Programm genommen wurde. Inzest ist eines der letzten verbliebenen Tabu-Themen im Fernsehen, und "Home" ist die womöglich verstörendste X-Akten-Episode überhaupt, aber auch eine, die zum Nachdenken anregt. Sie gehört zu einer Reihe von Folgen, die keine expliziten paranormalen Themen haben (wie auch das bekannteste Beispiel solcher Episoden, "Irresistible" aus Staffel 2), sondern statt dessen Tabu-Themen aufgreifen. Wie auch in "Irresistible" rührt der Horroreffekt u.a. daher, dass solche Fälle in der realen Welt vorkommen können, wenn auch in diesem Extrem nicht bekannt sind (zumindest mir nicht).

Abgesehen von dem offensichtlichen Thema "Folgen genetischen Inzests" scheinen es Morgan & Wong in dieser Episode darauf angelegt zu haben, Familien- und Kleinstadt-Ideale auf den Kopf zu stellen. Die untereinander verschworene Familie mit Söhnen, die alles für ihre Mutter täten, erweist sich als eine Freakshow: Die Söhne durch generationenlange Inzucht geistig zurückgeblieben und körperlich entstellt, die Mutter eine kontrollierende Tyrannin, die trotz der offensichtlich katastrophalen Folgen die inzestuöse Fortpflanzung um jeden Preis weiter treiben will. Die Aussagen der Episode sind klar: Scully beschreibt die Peacocks als "a pack of animals", Mulder philosophiert dass "mankind, absent its own creation of civilization, technology and information, regressed to an almost prehistoric state," und bemerkt bei der Entdeckung des ermordeten Sheriffs und seiner Frau, "they really went caveman on them." Die Implikation ist, ohne genetische Vielfalt entwickelt sich die Menschheit zurück, bis sie kaum noch als menschlich zu erkennen ist. (Man kann sich fragen, ob die Autoren dies auch metaphorisch verstanden wissen wollen, oder ob das zuviel hineingelesen ist.)

Neben Familienidealen werden in "Home" auch Kleinstadt-Idyllen dekonstruiert. Die "heimelige" Kleinstadt - oder eigentlich ist es eher ein Dorf - wird von Sheriff Taylor folgendermaßen charakterisiert: "Population of Home is only a few hundred. Everybody knows everybody, pretty much," und Mulder schwärmt von "all day pick-up games out on the vineyard, ride your bikes down to the beach, eat bologna sandwiches. Only place you had to be on time was home for dinner. Never had to lock your doors. No modems, no faxes, no cell phones," und will nach Ende seiner beruflichen Laufbahn in solch einem Ort leben. Eine beschützte Umgebung, frei von der Kriminalität und der Korruption der modernen Welt- nach dem Motto: Früher war alles besser. "I’ve seen and heard some of the sick and horrible things that go on outside my Home. At the same time, I knew we couldn’t stay hidden forever… that one day, the modern world would find us and… my home town would change forever," sagt Sheriff Taylor, und: "Now, I want to find whoever did this… but in doing so, I’d like it if the way things are around here didn’t have to change." Natürlich ist das ein Fantasiegebilde, und sein Wunsch scheitert daran, dass das Übel nicht von außen über die kleine Stadt hereingebrochen, sondern über Generationen in ihr selbst entstanden ist. "Home" suggeriert ziemlich deutlich, dass das Dorf im Bilde war, zumindest den Grundzügen nach, was in dem Haus vor sich ging: "They grow their own food, they raise their own pigs, the breed their own cows… raise and breed their own stock… if you get my meaning." Aber man verschloss die Augen davor, solange die Idylle nicht aus den Fugen geriet.

Von unseren Agenten ist in "Home" Scully die treibende Kraft. Während es hier Mulder ist, der den Fall aufgeben will, besteht Scully darauf, ihn weiterzuverfolgen, weil sie glaubt, dass eine hilflose Frau im Peacock-Haus gefangen gehalten wird (das ansonsten häufig von ihr vorgebrachte Argument, das sei keine X-Akte, zählt hier für sie nicht). Interessanter sind jedoch Scullys Gedanken über Mutterschaft. Schon früher in der Serie wurde angedeutet, dass Scully gerne einmal Kinder hätte, und ihre Äußerungen sind vor allem im Lichte dessen interessant, was auf Scully in dieser Hinsicht in der Serie noch zukommen wird. "Imagine all a woman’s hopes and dreams for her child and then nature turns so cruel. What must a mother go through? ... I guess I was just projecting on myself."
Etwas später macht Mulder Scherze über Scullys Ängste: "Just find yourself a man with a spotless genetic make-up and a really high tolerance for being second-guessed and start pumping out the little Uber-Scullies." Ganz offensichtlich weiß er noch nicht, dass Scully unfruchtbar ist - aber Scullys Reaktion lässt vermuten, dass sie es bereits erfahren hat. Mrs Peacocks Predigt ("I can tell you don’t have no children. Maybe one day you’ll learn; the pride, the love when you know your boy will do anything for his mother.") wirkt vor diesem Hintergrund so zynisch wie grotesk; diese Frau verbringt ihr Leben unter ihrem eigenen Bett und existiert nur, um weitere deformierte Kinder mit ihren eigenen Söhnen zu zeugen, aber dennoch hat sie Scully etwas voraus; Scully bleibt bis zum Ende der 11. Season eine normale Mutterschaft verwehrt.

Von der Inszenierung her ist "Home" eine klassische Horrorepisode, die Morgan & Wong-typisch bis nahe an die Parodie überzeichnet ist - so zum Beispiel, als in der Geburtszene einer der Brüder nach einer Gabel greift. Alles geschieht in einer dunklen Nacht in schwerem Regen, in der danach ein schreiendes Baby lebendig begraben wird. Das Haus ist voll von tückischen Fallen, die Autopsie findet in einer Toilette statt. Die Masken, die die Deformationen der Familie zeigen und der Verfall des Hauses sind hervorragend inszeniert. Das alles wird kontrastiert mit den betont sonnigen Außenaufnahmen in den Konversationen der anderen Beteiligten und natürlich mit dem Song "Wonderful World". Auch das Ende ist klassischer Horror-Film: Die Mutter und der Sohn im Cadillac; es wird angedeutet, dass die Geschichte an einem anderen Ort genauso weitergeht. "Home" ist sicher eine der eigenwilligsten und auch denkwürdigsten Episoden von Akte X. Ich gebe fünf Chromosomencharts dafür.
nevermore
Administrator
 
Beiträge: 5117
Registriert: Do 12. Jun 2008, 19:43
Wohnort: Outback Stuttgart

Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Sa 9. Feb 2019, 19:48

Folge 3, Staffel 4: "Teliko / Teliko"

Drehbuch: Howard Gordon
Regie: Jim Charleston



In einer Flugzeugtoilette wird die Leiche eines Afroamerikaners gefunden, der jegliche Pigmentierung fehlt. Als wenig später in Philadelphia ähnliche Todesfälle vorkommen, werden Mulder und Scully hinzugezogen. Während Scully an eine Krankheit glaubt, vermutet Mulder, dass etwas anderes dahinter steckt.

Ich kann "Teliko" nicht viel abgewinnen, finde sie teilweise sogar etwas ärgerlich. Der ärgerliche Teil bezieht sich u.a. auf den Titel. Telikos, hier in der Episode nach der Erzählung des Ministers aus Burkina Faso Geister, die in der Nacht über Unschuldige herfallen und diese entfärbt zurücklassen, ist in der afrikanischen Mythologie bekannt als Teil des Schöpfungsmythos der Bambara. Mal abgesehen davon, dass es sich um einen Geist handelt und nicht "Telikos" im Plural, habe ich zwar Hinweise gefunden, dass er manchmal als Albino beschrieben wird, aber nichts, was ihn im Zusammenhang mit irgendwelchen mörderischen Vorfällen beschrieben hätte - was bei einem Schöpfungsmythos auch merkwürdig wäre. Das ist nicht das erste Mal, dass Akte X Figuren aus Legenden verwendet und irgendwie verschlimmbessert - das war schon in "The Jersey Devil" der Fall, wo ich die Motivation noch irgendwie nachvollziehen konnte, und schlimmer noch in "Shapes", wo der indianische große Geist Manitou zu einem werwolfartigen Monster wurde. So etwas muss wirklich nicht sein und stört mich immer sehr; ich würde mir wünschen, die Serie wäre halb so sorgfältig in diesen Dingen wie sie es bei Scullys wissenschaftlichen Einsätzen ist. Dem X Files Wiki zufolge ist "Teliko" außerdem auch der griechische Ausdruck für "das Ende".

Die Episode ist eine der seltenen, in denen die Tagline verändert wurde, sie heißt: "Deceive, Inveigle, and Obfuscate". Der Begriff oder ein Teil davon fällt zwar ein paarmal in der Episode, aber der tiefere Sinn, der die Veränderung der Tagline rechtfertigen würde, erschließt sich mir nicht.

Die Geschichte selber ist als Erzählung über die Vertuschung von Todesfällen unter einer Minderheitengruppe durch die Behörden angelegt. "Scully, has it occurred to you that this might just be a little PR exercise? To divert attention from the fact that young black men are dying and nobody seems to be able to bring in a suspect? The perception being that nobody cares." Der Täter kommt dabei aus der Minoritätengruppe selbst; in dieser Hinsicht ist die Folge ähnlich angelegt wie "Hell Money", wo die chinesische Gemeinde von den Behörden sich selbst überlassen worden war und das FBI keine Autorität mehr innehatte. Ähnlich sind hier zwar ein paar Medienberichte über die Taten vorhanden, aber einen Aufruhr scheint es darüber nicht gerade zu geben. Es ist sehr typisch für Mulder, dass er sich sehr darüber aufregt, als es den Anschein hat, als wolle man die Vorgänge mit Erklärungen über eine Krankheit unter den Tisch kehren.

Leider werden diese Bemühungen dadurch konterkariert, dass sämtliche farbigen Figuren in der Episode entweder Monster, Opfer oder nutzlos sind. Der Sozialarbeiter Duff ist geradezu eine Karikatur des naiven Idealisten, der hier blindlings ein Monster verteidigt. Dabei wird er beinahe selbst ermordet und muss von einem - weißen - Polizisten sowie den beiden Agenten gerettet werden. Die Botschaft von Burkina Faso versucht, die Morde zu vertuschen. Der in der Botschaft beschäftigte Mitarbeiter - von dem man eigentlich annehmen sollte, dass er einen vergleichsweise hohen Bildungsstand hat - begründet dies mit Geistergeschichten, an die er sich aus seiner Kindheit erinnert. Die Logik, wegen dieser Geschichten die Untersuchung zu stoppen, erschließt sich mir überhaupt nicht. Sollte er nicht daran interessiert sein, der Sache auf den Grund zu gehen? Zu allem Überfluss ist da noch Marita Covarrubias mit ihrem Hinweis, dass Grenzen de facto nur auf dem Papier existieren. Unter dem Strich wird "Teliko", trotz aller Bemühungen, die Episode nach etwas anderem aussehen zu lassen, so zu einer Geschichte über ein Monster aus Afrika, das in die USA einfällt, kaum ein Wort Englisch kann und vom dortigen Sozialsystem beschützt wird, und als Dank dafür diejenigen, die ihn beschützen, auch noch ermorden will. Da hilft auch Scullys Nachwort - "what science may never be able to explain is our ineffable fear of the alien among us" - nicht viel.

Von diesem gesellschaftspolitischen Kontext einmal abgesehen ist "Teliko" die letzte in einer Reihe von Episoden über ein Monster, das mordet, weil es irgendwelche Körperteile oder -substanzen zum Überleben braucht. "2Shy" und vor allem natürlich die Tooms-Episoden fallen mir da spontan ein. Die Verwandtschaft mit Tooms ist dabei am engsten; ähnlich wie Tooms sieht Aboah schon durch die Kontaktlinsen kaum menschlich aus und kann sich ebenfalls in engste Räume zwängen. Leider erfährt man über Aboah, anders als über Eugene Victor Tooms oder Virgil Incanto, nie etwas näheres. Es bleibt unklar, wie er es schafft, sich in diese Ecken zu quetschen, oder weswegen er in die USA gekommen ist - "Free Cable" taugt hier wohl kaum als Erklärung; in Burkina Faso wäre die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, vermutlich geringer - was er tagsüber tut, oder auch nur, ob er schon so geboren wurde oder wie alt er ist. Dass ein ganzer Stamm in Afrika so lange unentdeckt geblieben sein soll, ist mir zu weit hergeholt.

"Teliko" ist jetzt von der gesellschaftspolitischen Botschaft her kein nahezu völliger Reinfall wie "Excelsis Dei", und von der Umsetzung her recht ordentlich gelungen. Zwar hat die Episode einige Längen, aber vor allem der Teaser im Flugzeug und der Showdown am Ende sind sehr gut inszeniert, und es gibt eine nette Szene mit Agent Pendrell. Unter dem Strich ist "Teliko" aber ganz klar eine der schwächeren Akte-X-Folgen. Ich gebe knapp drei Passionsblumensamen dafür.
nevermore
Administrator
 
Beiträge: 5117
Registriert: Do 12. Jun 2008, 19:43
Wohnort: Outback Stuttgart

Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Mo 11. Feb 2019, 23:02

Folge 4, Staffel 4: "Unruhe / Unruhe"

Drehbuch: Vince Gilligan
Regie: Rob Bowman



Mulder und Scully untersuchen den Fall eines Kidnappers, der Frauen entführt und sie einer Lobotomie unterzieht. Im Umfeld der Tatorte werden Fotos der Opfer aufgefunden, die sie in der Entführungssituation zeigen, jedoch merkwürdig verzerrt aussehen. Mulder glaubt, der Täter habe seine Phantasien auf die Bilder projiziert.

"Unruhe" erinnert stark an die Episode "Grotesque" aus der dritten Staffel. Den Produktionsnotizen zufolge stammt der Name von einem Artikel in einem Time-Life Buch über einen Massenmörder namens Howard Unruh. Auch in "Unruhe" geht es darum, in die Gedankenwelt des Täters einzudringen, um ihn zu stellen. Auch hier geht es um das Verhältnis von Geisteskrankheit und dem Bösen. Während in "Grotesque" das Thema Geisteskrankheit nur in Mulders Monologen auftauchte, wird hier in "Unruhe" ausdrücklich thematisiert, dass der Täter Gerry Schnauz geisteskrank ist. Er bildet sich ein, dass er selbst ebenso wie seine Opfer von "Howlers" infiziert sind, die sein Verhalten und das der Opfer zu kontrollieren versuchen - und sieht sich in der Rolle als deren "Retter".

"Unruhe" zeigt entsprechend wieder wie schon "Grotesque" Mulder in seiner ursprünglichen Tätigkeit als Profiler agierend. Scully hat dafür zunächst wenig Verständnis. Als Mulder nach der zweiten Entführung nach weiteren Fotos sucht, fragt sie: "Is that what we’re looking for here, Mulder? More evidence of psychic photography?" und hält die weitere Beschäftigung mit den Fotos für Zeitverschwendung ("I want special photo to run this. I still think the answer is in here." - "What if it's not, Mulder? This woman's time is running out."). Als Schnauz dann gefasst wird, interessiert sich Scully für Schnauzs Krankheitsbild nicht und zeigt auch kein Verständnis für Mulders Interesse: "It's over, Mulder...What the hell does it matter?" - "Because I want to know." - "I don't." Als sie dann selber von Schnauz entführt und gefangen genommen wird, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich damit zu beschäftigen. Ihr Schlussmonolog erweckt dann den Anschein, dass die ganze Episode dazu gedacht war, Scully eine Lektion zu erteilen: "My captivity forced me to understand and even empathize with Gerry Schnauz. My survival depended on it. I see now the value of such insight." Und auch der Schlusssatz stellt wieder den Bezug zu "Grotesque" her, und nahezu wörtlich zu dem Nietzsche-Zitat, das dort als Leitmotiv fungierte ("Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."): "For truly to pursue monsters, we must understand them. We must venture into their minds. Only in doing so, do we risk letting them venture into ours?"

Die Charakterisierung von Gerry Schnauz in "Unruhe" finde ich sehr gut gelungen. Das liegt einerseits an Pruitt Taylor Vinces Darstellung, die nicht in Klischees über geisteskranke Mörder verfällt, sondern zurückhaltend ist und die Konflikte von Schnauz, seinen Wahn über Howlers, die ihn kontrollieren, sehr gut herüber bringt. Schnauz ist nicht einfach ein Monster, sondern er leidet unter seiner Krankheit - auch wenn ihm nicht bewusst ist, dass er immer noch krank ist - das macht die Episode sehr deutlich. In seinem kranken Gehirn will er den Entführten ja nicht schaden, sondern ihnen helfen. Die Konfrontationen mit Scully sind sehr gut gelungen. Das gilt sowohl für die Szene, als Mulder ihr am Telefon mitteilt, der Täter habe abnorm lange Beine, just zu dem Zeitpunkt, als sie dem auf Stelzen stehenden Schnauz auf der Baustelle gegenüber steht, als auch für die Szenen im Wohnwagen, als sie versucht, mit ihm vernünftig zu reden, und die Verbindung zwischen den Wahnvorstellungen, dem Vater und der vermutlich missbrauchten Schwester zieht. Scully wird hier gezwungen, selber zur Profilerin zu werden.

Am anderen Ende war es schön, wieder einmal Mulder als Profiler aktiv zu sehen (kommt für meinen Geschmack viel zu selten vor in der Serie), wie er letztendlich die richtigen Schlüsse aus den Fotos zieht, um Scully zu finden. Wie genau die Gedankenbilder Gerrys auf das Fotopapier kommen, wird nicht erklärt, und das ist m.M.n. auch nicht notwendig. Die "Thoughtographs", die psychischen Fotografien, haben allerdings einen realen Hintergrund; derartige Versuche gehen zurück bis ins späte 19. Jahrhundert, als man versuchte, Geister auf Fotografien festzuhalten. Bekannt wurden sie später v.a. durch den von Mulder in der Episode erwähnten Ted Serios. (In den Produktionsnotizen fand ich nun auch heraus, weswegen die Sendereihenfolge gegenüber der Produktionsreihenfolge geändert wurde. In den USA wurde Akte X vom Freitag Abend auf den Sonntag Abend umgesetzt, und die vierte Folge war die erste auf dem neuen Sendeplatz. Da man - verständliche - Bedenken hatte, mit "Home" auf dem neuen stärker familienorientierten Sendeplatz zu starten und "Teliko" für nicht gut genug hielt, wurde die eigentlich zweite Episode "Unruhe" nach hinten geschoben.)

Drehbuch und Regie nutzen ein paar sehr effektive Mittel, um "Unruhe" zu einer eindrucksvollen Horrorepisode zu machen. Der Täter lauert Scully unter dem Auto liegend auf, er arbeitet mit Drogen und einem Skalpell, es besteht die Gefahr dauerhafter Gehirnschäden. Auch die Aufnahmen mit den Stelzen und natürlich die Fotos selbst sind sehr effektiv. "Unruhe" ist insgesamt etwas action-lastiger als "Grotesque", kommt aber für mich nicht ganz an die verstörende Atmosphäre, die psychologischen Schrecken und die Dunkelheit letzterer heran. Ich vergebe fünf Polaroid-Fotografien dafür.
nevermore
Administrator
 
Beiträge: 5117
Registriert: Do 12. Jun 2008, 19:43
Wohnort: Outback Stuttgart

Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Sa 16. Feb 2019, 15:56

Folge 5, Staffel 4: "Rückkehr der Seelen / The Field Where I Died"

Drehbuch: Glen Morgan & James Wong
Regie: Rob Bowman



Auf einen anonymen Hinweis hin stürmt das FBI das Anwesen einer Endzeit-Sekte, die angeblich illegale Waffen lagert. Der Sektenführer kann festgenommen werden, ein Nachweis illegaler Aktivitäten dagegen gelingt nicht. Mulder und Scully bleiben 24 Stunden, diesen Nachweis zu erbringen, bevor die Leute wieder freigelassen werden müssen. Ein Sektenmitglied, das sie verhören, gibt ihnen Rätsel auf: Sie scheint multiple Persönlichkeiten zu besitzen und Mulder aus einem früheren Leben zu kennen.

"The Field Where I Died" ist der zweite Skript, den Morgan & Wong nach ihrer Rückkehr für die X-Akten verfasst haben, und wie auch "Home" ist er eher außergewöhnlich für Akte X, eine sehr ambitionierte Episode mit großen Ideen, die kompromisslos verfolgt werden. Es überlagern sich zwei Themenkomplexe, zum einen das Geschehen um die Endzeit-Sekte, zum anderen die Reinkarnationsthematik um Mulder und Melissa.

Was die Sektengeschichte angeht, ist "The Field Where I Died" von dem Massenselbstmord der People's Temple-Sekte in Jonestown, Guayana, 1978, besonders aber vom Sturm des Sektenhauptquartiers der Branch Davidians durch das FBI in Waco, Texas, 1993 inspiriert (beide Vorfälle werden von Skinner bei seiner Einführung des A.T.F.-Teams auch erwähnt). Besonders Sektenführer Vernon Ephesian hat viele Ähnlichkeiten mit dem Anführer der Branch Davidians David Koresh (bürgerlich Vernon Wayne Howell; der Nachname Ephesian bezieht sich auf den Brief an die Epheser aus dem Neuen Testament, einem Aufruf an die Christen zur Einigkeit mit Anweisungen zur Lebensführung nach Gottes Willen und einem Appell zur "geistigen Waffenrüstung"). Ebenso wie Vernon Ephesian predigte Koresh eine unorthodoxe Bibelinterpretation und forderte Enthaltsamkeit von den Anhängern, hatte aber mit mehreren der Frauen unter ihnen Kinder. Der Name der Sekte "Church of the Seven Stars" scheint vom Offenbarungs-Buch "Seven Seals" inspiriert, um das Koreshs Predigten sich wohl hauptsächlich drehten. Es gab Anschuldigungen des Kindesmissbrauchs und der Kindesmisshandlung sowie des Besitzes illegaler Waffen, die schließlich zum Eingreifen des FBI führten. Der Massenselbstmord durch einen Gifttrank wiederum ähnelt dem Ende der Jonestown-Sekte.

Vernon Ephesian behauptet, seine Bibelauslegungen seien die einzig richtigen, und gibt sich davon überzeugt; Mulder hingegen glaubt, dass Ephesians Überzeugungen in Wahrheit nicht so felsenfest sind, wie er vorgibt: "You're saying he'll attack the A.T.F. agents searching for the bunker, and believing his prophesied, he'll win? - "I would be saying that if I thought he believed in Revelations in its entirety… but he hid the weapons. ... If he doesn't believe that he can defeat the devil's army, he may think that by denying himself and his followers to the devil… by denying himself, do you understand?" In anderen Worten, Ephesian würde lieber Selbstmord begehen, als sich der Erkenntnis zu stellen, dass seine Bibelauslegung falsch ist.

Die Schnittstelle zur Reinkarnationsthematik ist Ephesians Glauben, dass er schon frühere Leben gelebt hat (... " he believes that he lived in Greece a hundred years ago"). Während Scully angesichts Melissas Metamorphose in den anonymen Whistleblower Sidney an eine multiple Persönlichkeitsstörung glaubt, ist Mulder - entgegen dem, was er zunächst Skinner gegenüber erklärt - davon überzeugt, dass Sidney eine Inkarnation von Melissa in einem früheren Leben ist. Mit dem zunehmenden Vertrauensverlust der konventionellen Religionen hat der Glaube an Reinkarnation gegen Ende des 20. Jahrhunderts auch in westlichen Ländern an Popularität gewonnen. Die Vorstellung von einer Art Seelengruppen oder -familien, die über mehrere Leben immer wieder zu ähnlichen Zeiten und in ähnlichen Rollen reinkarnieren und sich begegnen, ist dabei nicht neu und sicherlich nichts, was Akte X oder Morgan & Wong erfunden haben. Es suggeriert, dass sich Geschichte wiederholt und bestimmte Muster immer wieder vorkommen ("all of this has happened before and all of it will happen again", um das Leitmotiv einer anderen Serie zu zitieren). Die Beteiligung Mulders, Scullys, Samanthas und des Rauchers in immer ähnlichen Rollen ist hierbei plausibel, lediglich Melissa kommt etwas aus heiterem Himmel, da sie weder vorher noch nachher irgendwie in der Serie auch nur genannt wurde. Die Stärke der Beziehung zwischen Mulder und Melissa ist sehr wichtig für die Episode, ich finde es jedoch schwierig, dem zu folgen, obwohl ich nicht zu den MS-Shippern zähle.

In "The Field Where I Died" ist die ganze Reinkarnationsgeschichte durch die Überlagerung mit Theorien der multiplen Persönlichkeit jedoch ohnehin ziemlich verwirrend. Dies kommt daher, dass eine "gewöhnliche" Reinkarnationsgeschichte mit den Daten nicht in Einklang zu bringen ist. So wird hier der Raucher als Gestapo-Offizier im Warschauer Ghetto genannt, jedoch ist aus "Apocrypha" bekannt, dass er zum Ende des zweiten Weltkrieges bereits für die US-Regierung arbeitete. Schon allein vom Alter her kann der Gestapo-Offizier nicht eine frühere Inkarnation des Rauchers gewesen sein. Was Melissa angeht, erinnert sich Mulder an ihren Tod während des Holocaust, ihre vermeintliche Reinkarnation Sidney war jedoch wenige Jahre später unter Präsident Truman bereits erwachsen. Das alles deutet eher darauf hin, dass die ganzen Reinkarnationsgeschichten Einbildung sind. Dem widersprechen jedoch die von Scully gefundenen Fotos von Sarah Kavanaugh und Sullivan Biddle, die darauf hindeuten, dass zumindest diese Reinkarnationsgeschichte eine - im X-Akten-Universum - reale Basis hat. (Die Geschichte von Kavanaugh und Biddle hat auf jeden Fall im RL eine reale Basis; die Figur des Sullivan Biddle basiert auf dem Bürgerkriegssoldaten Sullivan Ballou, der einen Brief an seine Frau Sarah schrieb, in dem es heißt, seine Liebe sei unsterblich und selbst wenn er getötet werde, würde er auf sie warten: "we shall meet again".) Sofern nicht auch noch Paralleluniversen in all dem eine Rolle spielen, ist aber nicht erklärlich, wie sich die überlappenden Biographen der Inkarnationen des Rauchers und Melissas mit den bekannten Daten in Einklang bringen lassen - es sei denn, dass sich Elemente der multiplen Persönlichkeit mit Reinkarnationselementen überlagern. Möglich ist das freilich. In einem Interview mit Morgan ist zu lesen, dass unter den aus Zeitgründen geschnittenen Szenen solche waren, die die Angelegenheit zweideutiger erscheinen lassen als in der ausgestrahlten Version. Die Interpretation, dass es keine Reinkarnation gibt, wird auch dadurch gestützt, dass man dem Zuschauer zu keinem Zeitpunkt Szenen aus den früheren Leben zeigt, sondern alles in Monologen der Beteiligten erzählt wird. Möglich ist aber auch, dass Drehbuchautoren, Produzenten und Schauspieler, was die Daten angeht, einfach alle im Kollektiv geschlafen haben. Schaut man sich an, wie sorgfältig die Episode ansonsten recherchiert ist, erscheint das alles etwas seltsam.

Insgesamt - und das wird auch in dem von @Keymaster erwähnten Tatbestand erkennbar, dass 20 Minuten der Folge geschnitten werden mussten - erscheint mir die Abhandlung beider Themenkomplexe in einer 40-Minuten-Episode als sehr ambitioniert, und es wäre vielleicht besser gewesen, man hätte die Reinkarnationshandlung gekürzt und wäre stärker auf die Sektenproblematik eingegangen. Wie aus den Produktionsnotizen hervorgeht, war ein Anliegen der Episode, vor allem Kristen Cloke und David Duchovny eine schauspielerische Herausforderung zu bieten.

Womit wir bei den schauspielerischen Leistungen wären. Vor allem Kristen Cloke in ihrer Mehrfach-Rolle als Melissa/Sarah Kavanaugh/Lily/Sidney (ich hoffe, ich habe jetzt keine vergessen) stieß hier an ihre Grenzen. Als die unglückliche, verunsicherte und ihres Lebens überdrüssige Melissa hat mir Cloke sehr gut gefallen. Bei Sarah Kavanough und Lily wurde es schon etwas kritischer und vollends verunglückt ist ihre Performance in der Rolle Sidneys, in der sie einfach nur unnatürlich und gradezu grotesk überdreht wirkt. Ähnlich geht es mir mit David Duchovny, der mir in vielen Szenen der Episode sehr gut gefiel, in den Szenen in der Regressionshypnose aber für mein Empfinden eindeutig zu dick auftrug und mir zu theatralisch wirkte. Gut gefallen hat mir Michael Massee als Vernon Ephesian.

Sehr gut gelungen ist in "The Field Where I died" die Inszenierung, beginnend schon mit dem Einrahmen der Folge in den Monolog Mulders aus Robert Brownings Gedicht "Parazelsus", als Einstieg und Abschluss. Dessen Bedeutung bleibt am Anfang noch mysteriös und wird erst am Ende offensichtlich. Überhaupt ist das tragische Ende vermutlich die größte Stärke der Episode, als Mulder nur wenige Sekunden zu spät kommt, um Melissa vor dem Massenselbstmord zu bewahren. Zum wiederholten Mal ist es Mulder damit nicht gelungen, eine ihm nahestehende Person zu retten. Samantha, sein Vater, seine Mutter... auch hier das Thema der sich wiederholenden Muster. Auch die Bilder und der Score der Episode sind wunderschön. Was die Geschichte und die Handlung insgesamt angeht, wirkt die Episode mit den beiden Handlungssträngen um die Sekte und die Reinkarnationsfrage (letztere zusätzlich verkompliziert durch die ganze Konfusion, ob es nun eine Reinkarnation gibt oder nicht) auf mich allerdings thematisch hoffnungslos überfrachtet. Im Gegenzug bleibt Scully in der Folge fast nichts mehr zu tun, sie wird - wie schon in den behaupteten früheren Leben - mehr oder weniger auf eine Begleiterin reduziert, was sehr schade ist. Unter dem Strich ist "The Field Where I Died" eine ambitionierte und sehr atmosphärische Episode mit einer Menge interessanter Ideen, schönen Bildern und einem gelungenen Score, die in der Umsetzung aber zumindest in Teilen gescheitert ist. Es fällt mir sehr schwer, sie zu bewerten; ich entscheide mich für knappe vier Schierlingsbecher.
nevermore
Administrator
 
Beiträge: 5117
Registriert: Do 12. Jun 2008, 19:43
Wohnort: Outback Stuttgart

Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Fr 22. Feb 2019, 11:46

Folge 6, Staffel 4: "Hexensabbat / Sanguinarium"

Drehbuch: Valerie Mayhew & Vivian Mayhew
Regie: Kim Manners



Bei einer Routineoperation in einer Klinik für plastische Chirurgie scheint ein Arzt plötzlich den Verstand zu verlieren und massakriert die Patietin, die daraufhin stirbt. Als Mulder und Scully sich des Falls annehmen, stoßen sie auf Anzeichen, dass schwarze Magie eine Rolle spielt.

"Sanguinarium" ist wieder einer dieser Freelancer-Skripts, bei dem man die Probleme in der Produktion auch dem Endprodukt noch ansieht. Es war das erste Drehbuch, das Vivian und Valerie Mayhew überhaupt für eine Fernsehepisode verfassten und musste den Produktionsnotizen und Episodenguides zufolge von Gordon, Gilligan, Morgan und Wong massiv umgeschrieben werden. Besonders der Einfluss von Morgan & Wong ist an mehreren Stellen sichtbar; die Szenen mit dem korrupten Krankenhauspersonal erinnern stark an die der satanistischen Eltern-Lehrerversammlung in der Morgan & Wong-Episode "Die Hand, die verletzt", ebenso weist die Episode mehrere Elemente auf, die an "Die Hand, die verletzt" erinnernd bis ins Parodistische überzeichnet sind - beispielsweise die miauende Katze und der Besen vor der Tür der praktizierenden Hexe, bei dessen Anblick Mulder bemerkt, "probable cause?", Dr. Franklin, der mit einer Gabel sein Gesicht häutet, oder wenn Dr. Kaplan bemerkt, "if we give any credence or credibility to Dr. Lloyd’s story, they're going to burn us at the stake". Auch der Anfang, als der Arzt wie besessen die Patientin massakriert und das Blutbad in der Wohnung von Dr. Franklin waren nah an der Parodie. Überhaupt sind die Szenen in "Sanguinarium" ungewöhnlich drastisch, stärker noch als in "Home", und erinnern teilweise eher an "Saw" als an eine X-Akten-Episode. An "Die Hand, die verletzt" erinnert auch die Art und Weise, wie Mulder und Scully ständig den Geschehnissen hinterherzulaufen scheinen und letztlich von Franklin ausgetrickst werden.

Eine weitere Parallele zu "Die Hand, die verletzt" ist das Thema Hexerei, und auch hier wird Wert darauf gelegt, dass die Hexe Schwester Waite (vermutlich nach dem Okkultisten Arthur Edward Waite benannt, auch der Namensgeber der Rider-Waite-Tarotkarten) nicht der Bösewicht ist, sondern ihre Pentagramme Schutzsymbole sind. Waites Glauben wird nicht genau benannt, aber die Vermutung, dass sie eine Wicca ist, ist naheliegend. Der wahre Bösewicht Dr. Franklin, den Schwester Waite bekämpfen will, hat hingegen mit Wicca nichts zu tun.

Im Vergleich zu "Die Hand, die verletzt" oder auch "Home" finde ich allerdings die Idee und vor allem die Handlung von "Sanguinarium" recht schwach. Die Thematik der plastischen Chirurgie und der wirtschaftlichen Bedeutung einer solchen Abteilung für ein Krankenhaus wird zwar angerissen, aber - wenn man von Andeutungen über Mulders Unzufriedenheit mit seiner Nase absieht - ohne auf irgendwelche gesellschaftlichen Implikationen einzugehen (was für Akte X eher ungewöhnlich ist). Es gibt einige gut inszenierte Szenen, wie beispielsweise die Szene in Dr. Franklins Badezimmer. Insgesamt scheint das ganze Gemetzel aber eher dazu zu dienen, von der recht dünnen Geschichte abzulenken. Für mich ist "Sanguinarium" eine der schwächsten Episoden von Staffel 4, allzuviel kann ich der Folge nicht abgewinnen. Ich gebe knapp drei Hexenbesen dafür.
nevermore
Administrator
 
Beiträge: 5117
Registriert: Do 12. Jun 2008, 19:43
Wohnort: Outback Stuttgart

Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » So 24. Feb 2019, 21:09

Folge 7, Staffel 4: "Gedanken des geheimnisvollen Rauchers / Musings of a Cigarette Smoking Man"

Drehbuch: Glen Morgan
Regie: James Wong



Frohike glaubt, die Lebensgeschichte und Beweggründe des Rauchers herausgefunden zu haben und hat Mulder und Scully eingeladen, um ihnen von seinen Erkenntnissen zu erzählen. Ohne ihr Wissen werden sie dabei vom Raucher beobachtet.

"Musings of a Cigarette Smoking Man" ist die erste Folge, in der Mulder und Scully nur als Cameo auftauchen. Sie konzentriert sich ganz auf den Raucher, und erzählt dessen Lebensgeschichte, oder genauer gesagt, sie wird von Frohike erzählt. Das ist auch der Knackpunkt, wenn es um die Fragen geht, ob das denn auch alles stimmt: Frohike hat die ganzen Informationen aus dem Schundheftchen, in dem der Raucher - ein verhinderter Schriftsteller, wie sich in dieser Episode herausstellt - seine Geschichte publiziert hat, und das Frohike abonniert hat. Die Erzählung stammt also vom Raucher selbst, dürfte also, nennen wir es mal dramaturgisch aufbereitet sein, und wurde noch dazu vom Herausgeber des Magazins überarbeitet. Der Wahrheitsgehalt ist also sehr fraglich; der Charme der Herangehensweise ist jedoch, dass hier aus der Perspektive des Rauchers erzählt wird und man viel über sein Innenleben erfährt.

Der Raucher, so erfahren wir in "Musings of a Cigarette Smoking Man", würde also am liebsten seinen Job aufgeben und sich ganz der Schriftstellerei widmen, kann seine Romane aber nirgendwo unterbringen. Eine Zeitschrift, das von Frohike abonnierte Schundheftchen, druckt schließlich eine seiner Geschichten ab, in der er aus seiner Lebensgeschichte und von seinen Motivationen erzählt.

Die Erzählung beginnt mit den Anfängen des Rauchers, dessen Vater ein Kommunist war, der in der McCarthy-Ära für seine Überzeugungen hingerichtet wurde. Der Raucher mochte Literatur und hasste Zigaretten. Während er Captain in der US-Armee ist, wird er von Leuten in der Militärführung rekrutiert, um John F. Kennedy zu ermorden und Lee Harvey Oswald zum Sündenbock dafür zu machen (im Anschluss daran fängt er an zu rauchen). Hier beginnt sein Aufstieg in der Schattenregierung, und sein Doppelleben als erfolgloser Schriftsteller. Er wird zum Machiavelli der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und ist in so ziemlich jedes wesentliche Ereignis in der US-Nachkriegsgeschichte involviert. Er ermordet Martin Luther King wegen positiver Kommentare zum Kommunismus, nachdem er J. Edgar Hoover getadelt hat, weil dieser diese Entwicklung nicht kommen sehen hat - ein Auftrag, den er bewusst selbst übernimmt, weil er King so sehr respektiert. Später wird eine Besprechung der Verschwörer gezeigt, in der alles vom Irak-Krieg bis zur Oscar-Verleihung besprochen wird. Nebenbei ist er noch damit beschäftigt, einen aufstrebenden jungen FBI-Agenten im Blick zu behalten, der sich für die X-Akten interessiert (der Raucher legt Wert darauf, sich dieser Angelegenheit persönlich anzunehmen, und man erfährt, dass Mulders Büro bereits im Pilotfilm von ihm abgehört wurde). Spätestens als Saddam Hussein anruft, Eishockey-Spiele manipuliert werden, und der Raucher befiehlt, dass die Buffalo Bills zu seinen Lebzeiten keine Super Bowl gewinnen dürfen, drängt sich der Verdacht auf, dass so einiges in dieser Erzählung der Fantasie des Rauchers entsprungen ist.

Neben diesen eher komödiantischen Elementen schlägt die Episode mit einer gemeinsamen Szene des Rauchers und Deep Throats einen Bogen zur Mythologie. Die Szene bezieht sich auf eine Begebenheit in "E.B.E" aus der ersten Staffel, den ersten Kontakt mit einer außerirdischen Lebensform nach einem UFO-Absturz in Vietnam, über den dort von Deep Throat erzählt wurde. Der Raucher gewinnt einen Münzwurf mit Deep Throat darüber, wer das Alien erschießen muss (Deep Throats Aussagen zufolge war dies das Ereignis, das ihn zu Mulders Informanten machte).

Die Erzählung endet mit dem Raucher, der seine Kündigung schreibt und dann herausfinden muss, dass die Zeitung das Ende seiner Geschichte umgeschrieben und völlig verstümmelt hat - woraufhin er das Kündigungsschreiben zerreisst.

"Musings of a Cigarette Smoking Man" ist eine fantastische Charakterstudie des Rauchers, seiner Entwicklung zum wichtigsten (menschlichen) Bösewicht der Serie, wie er durch seine Entscheidungen zum zentralen Antagonisten geworden ist. Er wuchs als Waise auf, sein übersteigerter Patriotismus ist das Resultat der umstürzlerischen Aktivitäten seines Vaters und möglicherweise auch des Tatbestands, dass diese die Ursache waren, weswegen er als Waise aufgewachsen ist. Alle Verbrechen, die er begangen hat, beging er im - vermeintlichen - Dienst für sein Land. "I've never killed anybody," sagt er zu "Deep Throat", implizierend, dass die Morde keine Morde aus eigenen Absichten, sondern so etwas wie die Aktionen eines Soldaten waren, er also eher ein Ausführender als der Verantwortliche war.

Ohnehin ist das Oszillieren des Rauchers zwischen Allmacht und Ohnmacht in der Geschichte interessant. Einerseits ist "Musings of a Cigarette Smoking Man" voll von Überhöhungen des Rauchers, der alles im Griff hat, jedes wesentliche und unwesentliche Ereignis direkt oder indirekt steuert, und im Verborgenen Geschichte schreibt. Andererseits hat er kaum Kontrolle über seine eigenen Geschicke, schafft es nicht, mit dem Rauchen aufzuhören, scheitert immer wieder mit dem Versuch, seine schriftstellerischen Werke publiziert zu bekommen, und als es letztlich doch ein Sexheftchen abdruckt, schreibt ihm der Herausgeber die Geschichte auch noch um - ihm, der doch behauptet, selber die Weltgeschichte geschrieben zu haben - woraufhin er seinen Plan, seinen Job aufzugeben und hauptberuflich Schriftsteller zu werden, endgültig ad acta legt. "Now, most people, common people, really… can barely manage to control their own self-centered, myopic existence," sagt General Francis zu Beginn der Episode, "and then, there are extraordinary men… those who must identify… comprehend, and ultimately shoulder the responsibility for not only their own existence, but their country's, and the world’s as well." Es hat den Anschein, als sei der Raucher sowohl das eine als auch das andere: Wie einflussreich er auch im politischen Geschehen sein mag, er schafft es nicht, seinen Beruf zu wechseln, sein Lebensplan wird vom Herausgeber des Sexheftchens umgeschrieben, "eviscerated by the actions of another”. (Zum Thema "alles im Griff haben" muss ich anmerken, dass es auch in seinen Aktivitäten als Schattenregierungsmann nicht immer diesen Anschein hatte; in den Mythologie-Folgen der dritten Staffel entglitten dem Raucher häufig die Geschehnisse und er war mit Schadensbegrenzungsmaßnahmen beschäftigt.)

Menschlich ist der Raucher zeitlebens allein geblieben. Als Waise aufgewachsen war er schon in der Kindheit ein Einzelgänger gewesen und wurde mit zunehmendem Alter und größer werdender Macht immer isolierter. Zu Weihnachten schenkt er seinen Untergebenen allen dieselbe Krawatte, und lehnt eine Einladung zum Essen ab, mit der Bemerkung, er habe eine Familie.
Die Verbindung des Rauchers zu Mulder wird hier mehrfach angedeutet; der Raucher sagt, er habe eine Familie, bevor er vor Mulders Bürotür stehen bleibt, er hat ein Foto von Teena Mulder und ihrem Baby Fox, Foxs erste Worte sollen "J.F.K." gewesen sein.
Wie Frohike sagt, "he's the most dangerous man alive, not so much because he believes in his actions, but because he believes his actions are all which life allows him".

"Musings of a Cigarette Smoking Man" erinnert mich in gewisser Weise an "José Chung's 'From Outer Space'", indem die Episode ebenso wie "José Chung" ein Kernelement von Akte X selbst auf's Korn nimmt: Morgan parodiert mit der Art und Weise, wie der Raucher für alles und jedes von JFKs Ermordung bis zu Super Bowl-Ergebnissen und Oscar-Verleihungen verantwortlich gemacht wird, Verschwörungstheorien. Parodiert wird auch ein Oscar-gekrönter Film, "Forest Gump", ausdrücklich im letzten Akt der Episode mit dem Monolog über die Pralinenschachtel, implizit, indem mit dem Raucher ähnlich wie Forest Gump ein Mann aus gewöhnlichen Verhältnissen ins Zentrum des Zeitgeschehen gerückt wird - auch wenn die Charaktere hier sehr verschieden sind, und im Fall des Rauchers dieses Thema sehr viel deutlicher überzeichnet wird, ist die unterliegende Thematik von "Musings of a Cigarette Smoking Man" vermutlich bewusst ähnlich wie die von "Forest Gump" angelegt. In gewisser Weise zitiert die Episode in subversiver Weise Heldenreise-Geschichten, indem hier anstelle des Helden der Bösewicht vom Waisenkind zum zentralen Akteur wird, dabei sich aber nicht charakterlich im Dienste des höheren Wohls zu einem Vorbild weiterentwickelt, sondern in diesem Dienst seine Seele verliert.

Hervorzuheben sind in "Musings" die schauspielerischen Leistungen von William B. Davis und Chris Owens in der Rolle des älteren und jüngeren Rauchers. Dass man anfänglich Zweifel an Davis' schauspielerischen Fähigkeiten hatte, ist angesichts dieser Episode kaum nachvollziehbar. Vom gefühlskalten Manipulator in den Szenen mit Deep Throat über den naiv-stammelnden Autor am Telefon mit dem Verleger bis zum ernüchterten Leser seiner eigenen, von besagtem Verleger umgeschriebenen Geschichte, Davis meistert alles mit Bravour. Was die Inszenierung angeht, sticht vor allem der zweite, ganz in schwarz-weiß gedrehte Teil hervor. Herrlich ist die Szene, in der der Raucher in Sekundenschnelle die elaborierten Schutzmechanismen der Lone Gunmen außer Kraft setzt, ebenso wie seine Selbst-Inszenierung als gottgleiche Gestalt, als er über Leben oder Tod von Frohike entscheidet. "Musings of a Cigarette Smoking Man" ist vermutlich der beste Beitrag von Morgan & Wong, und eine der originellsten Episoden von Akte X. Ich vergebe sieben von sechs Pralinenschachteln dafür.
nevermore
Administrator
 
Beiträge: 5117
Registriert: Do 12. Jun 2008, 19:43
Wohnort: Outback Stuttgart

Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Do 7. Mär 2019, 22:14

Folge 8, Staffel 4: "Tunguska Teil I / Tunguska"

Drehbuch: Chris Carter & Frank Spotnitz
Regie: Kim Manners



Der aus dem Raketensilo in North Dakota befreite Krycek bringt Mulder und Scully auf die Spur eines Kuriers, der einen Felsbrocken mit dem Schwarzen Öl aus Russland in die USA transportiert. Auf der Suche nach dem Ursprung des Steins reist Mulder in Begleitung von Krycek nach Sibirien. In der Zwischenzeit wird der Stein von einem NASA-Wissenschaftler untersucht, der dabei scheinbar zu Tode kommt, und Skinner und Scully müssen dem Senat über den Verbleib Mulders Rede und Antwort stehen.

Wie so oft in den Mythologie-Episoden von Akte X hat auch der Meteroriteneinschlag im sibirischen Tunguska, der den Stein mit dem Schwarzen Öl zur Erde beförderte, einen realen Hintergrund. Im Jahr 1908 fand eine gewaltige Explosion in dieser Region statt, als deren Ursache ein Meteoriteneinschlag vermutet wird. (Allerdings wurden in der realen Welt bis heute keine größeren Überreste des Meteoriten gefunden, so dass sich immer noch diverse Mythen um das Ereignis ranken.) Die Gewalt des Einschlags war, wie Mulder Krycek erzählt, um ein Vielfaches größer als die der Hiroshima-Bombe, im Umkreis von 2.000 km knickten Bäume um. Im "Tunguska"-Zweiteiler von Akte X wird angenommen, dass es sich um einen Asteroiden vom Mars handelte. Solche Mars-Asterioden gibt es wirklich, der bekannteste ist ALH84001, der 1984 in der Antarktis entdeckt wurde und 1996 in den Schlagzeilen war, weil man fossile Bakterien in ihm vermutete. Hierauf bezieht sich die Aussage von Dr. Sacks in der Episode: "This rock contains what are known as polycyclic aromatic hydrocarbons fitting the approximate description of those in fragments of meteorite found in the ice fields of Antarctica. [...] What you're looking at is quite possibly from Mars, over four billion years old [...] adding evidence to the debate over the fossilized remains of alien bacteria". Auf solchen Möglichkeiten basieren die sog. Panspermie-Theorien, nach denen das Leben auf der Erde seinen Ursprung in außerirdischen Meteoriten hat, die vor Milliarden Jahren abgestürzt sind. In Akte X ist die außerirdische Lebensform, die der Meteorität trug, das Schwarze Öl - in Russland auch der Schwarze Krebs genannt. Somit müsste es das Schwarze Öl auch auf dem Mars geben. Im "Tunguska"-Zweiteiler bewegt es sich in Form von kleinen, wurmähnlichen Einheiten fort, die unter der Haut kriechen. Anders als das Öl in "Piper Maru" kann das Tunguska-Öl die übernommene Person, hier Dr. Sacks, jedoch nicht kontrollieren, sondern versetzt sie in eine Art Koma.

Dreh- und Angelpunkt im "Tunguska"-Zweiteiler ist unser Freund Krycek, der am Ende von "Apocrypha" vom Schwarzen Öl infiziert in einem Raketensilo in North Dakota eingesperrt worden ist. Irgendwie ist er von dort entkommen.
seiner Erklärung, er sei von den Terroristen befreit worden, wird in "Terma" vom Anführer selbiger widersprochen.
Der volle Umfang von Kryceks Rolle in diesem Zweiteiler wird erst im zweiten Teil klar. Hier hat er sich zunächst einer Gruppe von Bombenterroristen angeschlossen, die er gleich wieder verrät und Mulder Tipps über den nächsten geplanten Anschlag zukommen lässt. Er überzeugt Mulder - der dann seinerseits Scully überzeugt - dass sie beide dasselbe Ziel verfolgen, nämlich das Syndikat und seine Pläne öffentlich zu machen.

Tatsächlich trägt Krycek mit seinen Manövern dazu bei, das Syndikat in eine Krisensituation zu bringen. Im Anschluss an den Tod des zweiten Kuriers, der eine Probe des russischen Schwarzen Öls in die USA bringen sollte, und Mulders Abreise nach Tunguska taucht der Raucher auf der Pferdefarm des Briten auf und informiert ihn, dass Mulder auf dem Weg nach Russland ist. Er - der noch in der Vorepisode "Musings of a Cigarette Smoking Man" angeblich alles im Griff hatte - wird vom Briten dafür heruntergeputzt; schon aus früheren Episoden weiß man, dass der Brite vom Raucher und insbesondere seinen Kavalerie-Methoden nicht viel hält. Seine Zweifel an der Kompetenz des Rauchers sind berechtigt: Wie schon in den Mythologiefolgen der dritten Staffel scheitert er an der Unfähigkeit seiner Handlanger; hier sind zwei Kuriere nicht in der Lage, eine Probe des russischen Schwarzen Öls in die USA zu bringen; den ersten bekommt er nicht einmal durch die Zollkontrolle, der zweite wird von Mulder und Scully abgefangen und verliert die Probe an sie. Verschwörer haben es nicht einfach.

Mit Mulders Reise nach Tunguska hat auch Krycek nicht gerechnet, der Mulder dazu bringen wollte, die Empfänger der Diplomatentasche ausfindig und öffentlich zu machen (also das Syndikat). Statt dessen interpretiert Mulder Kryceks "follow the pouch" auf seine Weise und macht sich auf die Suche nach dem Ursprung der Probe. Er findet mit Hilfe von Marita Covarrubias heraus, dass die Diplomatentasche in Russland, in der Nähe von Tunguska, eingecheckt wurde. Das ist das letzte, was der mit den Russen unter einer Decke steckende Krycek wollte; es bleibt ihm zur Schadensbegrenzung nichts anderes übrig, als mit Mulder nach Tunguska zu reisen.

Der als etwas eitler und (absichtlich) nerviger Kaffee-Boy des Syndikats eingeführte Krycek hat sich seit Beginn der zweiten Staffel zu einer immer interessanteren und einflussreicheren Figur entwickelt. Von Reviewer und X-Files-Experten Darren Mooney wurde darauf hingewiesen, dass Krycek in vielerlei Hinsicht als eine Art dunkles Spiegelbild, ein Schatten-Selbst in der Terminologie von C.G. Jung, von Mulder fungiert. Auch er will spätestens seit dem Anschlag auf ihn das Syndikat öffentlich machen und zerstören, ist im Unterschied zu Mulder aber durch Rachegelüste und rein destruktiv motiviert. Er ist ebenso paranoid wie Mulder, was die Regierung anbelangt, lässt aber im Unterschied zu diesem jegliche Integrität vermissen. So hat er sich einer rechtsextremen Terroreinheit angeschlosen, um seine Ziele zu erreichen; etwas, was Mulder selbst in den verzweifelsten Umständen nicht in den Sinn käme. Mulder wiederum führt seine Suche wieder einmal ans andere Ende der Welt, in diesem Fall direkt in einen sibirischen Gulag, wo er erstmals die Wirkung des Schwarzen Öls am eigenen Leib efährt.

Scully und auch Skinner bleiben in dieser Episode wieder nur begleitende Rollen. Bei der Anhörung im Senat wird allerdings deutlich, wie weit sich Scully von der autoritätsgläubigen und etwas naiven jungen Agentin im Pilotfilm weiterentwickelt hat. Sie stellt hier offen in den Raum, dass Regierungsmitglieder entgegen der Interessen des Landes handeln und dafür straffrei ausgehen. Skinner - der sich anscheinend wieder von seiner Frau getrennt hat - ist wieder einmal zwischen zwei Loyalitäten gefangen.

"Tunguska" profitiert sehr vom Zusammenspiel von Nicholas Lea und David Duchovny, und der Dynamik zwischen Krycek und Mulder, die hier beginnt, sich zu einer Art Hassliebe zwischen Mulder und seinem dunklen Bruder zu entwickeln. Die Show hat schon früh in "Sleepless" mit einer gewissen homoerotischen Spannung zwischen beiden Charakteren gespielt (die Szene am Schwimmbecken; die Reaktion des von Mulder stehengelassenen Krycek, die an die eines versetzten Liebhabers erinnerte). Die Inszenierung der Episode weist wieder, wie schon in früheren Mythologie-Folgen und einigen Einzelepisoden, Kinofilm-Qualitäten auf. Dies gilt besonders für die Szenen in Tunguska und im Gulag. Auch die Spezialeffekte sind für ihre Zeit sehr gut gelungen; vor allem das wurmartige, in Körperöffnungen kriechende und sich unter der Haut fortbewegende Schwarze Öl ist hervorragend umgesetzt. Die letzte Szene, in der Mulder mit dem Schwarzen Öl infiziert, in einer Reihe von anderen Opfern gefesselt auf einer Pritsche liegt, ist eine der denkwürdigsten der ganzen Serie und ein großartiger Cliffhanger. Wenn es etwas zu kritisieren gibt, dann sind es die Sidekick-Rollen von Skinner und vor allem Scully, und die verwickelte Handlung, die den Zuschauer in diesem ersten Teil selbst für Akte X-Verhältnisse vor sehr viele Fragen stellt. Insgesamt ist "Tunguska" jedoch ein weiterer gelungener Beitrag, der eine Ausweitung der Mythologie einleitet. Ich gebe fünf Diplomatentaschen dafür.
nevermore
Administrator
 
Beiträge: 5117
Registriert: Do 12. Jun 2008, 19:43
Wohnort: Outback Stuttgart

Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Fr 8. Mär 2019, 23:06

Folge 9, Staffel 4: "Tunguska Teil II / Terma"

Drehbuch: Chris Carter & Frank Spotnitz
Regie: Rob Bowman



Mulder gelingt es, aus dem sibirischen Gulag zu entkommen und Krycek als Geisel mitzunehmen, der jedoch fliehen kann. Währenddessen versucht Scully ihre Untersuchungen weiterzuführen, wird aber durch politische Machenschaften daran gehindert. Ein ehemaliger KGB-Agent wird reaktiviert, um sämtliche Spuren der in die USA transportierten Proben des russischen Schwarzen Öls zu zerstören.

Die übliche Akte X-Tagline "The Truth Is Out There" wird in "Terma", dem zweiten Teil des Tunguska-Zweiteilers, ersetzt durch "E Pur Si Muove". "E Pur Si Muove" ist Lateinisch und bedeutet "Und Sie bewegt sich doch", ein Ausspruch, der Galileo Galilei zugeschrieben wird, und sich darauf bezieht, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt. Im weiteren Sinn steht er für die Verteidigung wissenschaftlicher Erkenntnisse gegenüber etablierten Institutionen, die sie leugnen und statt dessen überkommene Dogmen aufrechterhalten. In "Terma" bezieht sich die Tagline auf Mulders Auftritt in der Senatsanhörung, und die Erkenntnis, um die es hier geht, ist die Existenz außerirdischen Lebens in Form des Schwarzen Öls, die von den vom Briten (dem Syndikatsmitglied) eingesetzten Senatoren geleugnet und lächerlich gemacht wird.

In "Terma" erfährt man den Zweck und die Hintergründe des Experiments, dem Mulder am Ende von "Tunguska" unterzogen wurde. Wie sein Zellennachbar, der russische Geologe, erklärt, versucht die russische Regierung, einen Impfstoff oder ein Heilmittel gegen das Schwarze Öl zu entwickeln. Hierzu wird den als Versuchspersonen dienenden Gefangenen zunächst der Impfstoff und dann das Schwarze Öl selbst injiziert. Das russische Schwarze Öl eignet sich im Vergleich zu dem auf der Piper Maru gefundenen sehr gut, da es - wie schon in "Tunguska" ersichtlich wurde - schwächer ist: Es ist nicht in der Lage, den übernommenen Wirt zu kontrollieren, es tötet ihn auch nicht, sondern versetzt ihn nur in ein Koma (es kann allerdings ebenfalls Schutzanzüge durchdringen). Hierdurch wird es zu einem idealen Medium für die Entwicklung eines Impfstoffes.

Weswegen sich das russische Öl anders verhält, darüber hat der Kollege von Eat The Corn einige Vermutungen angestellt. Er schreibt, dass der jahrmillionenlange Aufenthalt im All in dem Mars-Asterioden sowie die Kälte in Sibirien für die Schwäche des russischen Schwarzen Öls verantwortlich sind. Dies halte ich für eine sehr plausible Theorie: Schon im "Colony/Endgame"-Zweiteiler starb Agent Weiss durch die Infektion mit einem außerirdischen Retrovirus, das bei Kälte inaktiv wurde (was dem ebenfalls infizierten Mulder am Ende das Leben rettete). Das Retrovirus stammte aus dem grünen Blut der Hybridenklone und des außerirdischen Kopfgeldjägers. Die genaue Beziehung zwischen dem Retrovirus und dem Schwarzen Öl ist unklar, die Vermutung, dass die beiden im Zusammenhang stehen liegt jedoch sehr nahe, da aus "The Erlenmeyer Flask" bekannt ist, dass auch das Schwarze Öl auf einem außerirdischen Virus basiert.
Später in "Fight the Future" wird dann bestätigt, dass das Öl bei niedrigen Temperaturen inaktiv wird.

Nachdem das Öl in den Körper des Wirts eingedrungen ist, bewegt es sich in Richtung Gehirn und setzt sich, wie Scully bei ihrer Untersuchung von Dr. Sacks feststellt, an der Epiphyse fest. Die Epiphyse steht zum einen mit neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen in Verbindung (was evtl. das Koma erklärt), ist aber in diversen Religionen auch das Organ, das dem sog. "Dritten Auge" zugeordnet ist. Das "Dritte Auge" steht für die Verbindung zum Göttlichen und soll einen Kanal zu göttlichem Wissen darstellen. Der Aktivierung des Dritten Auges wird auch die Entwicklung übersinnlicher Fähigkeiten wie Hellsichtigkeit zugeschrieben.
Man braucht zu diesem Zeitpunkt eigentlich fast schon kein Spoiler-Tag mehr zu setzen; es ist nach so viel Engels- und Gottessymbolik im Zusammenhang mit den Außerirdischen offensichtlich, dass die Wahl der Epiphyse als dem Organ, an das sich das Schwarze Öl andockt, kein Zufall sein kann. An diesem Zusammenhang ist nichts planlos und die Ereignisse in Season 6 und 7 sind nicht, wie häufig behauptet, plötzlich dazuerfunden worden. Das war ganz offensichtlich schon sehr früh in der Serie so angelegt.

Da Mulders Zellennachbar bei der Entdeckung des russischen Schwarzen Öls dabei war, kann dies noch nicht so lange her sein, vermutlich nicht länger als ca. 10 Jahre. Es wurde schnell als ein potenzieller biologischer Kampfstoff identifiziert und es wurde mit Tests und der Suche nach einem Impfstoff oder Heilmittel begonnen. (Man will ja für den Fall, dass die eigenen Leute infiziert werden, gewappnet sein.) Nach einer Vielzahl von Versuchen gelang es den Russen, die Basis für ein Gegenmittel zu entwickeln, das jedoch nur unvollständig funktioniert: Noch sterben die Versuchspersonen nach wiederholter Infektion durch das Schwarze Öl.

Auch das US-amerikanische Syndikat ist auf der Suche nach einem Impfstoff ("How could the Russians know we were working on our own inoculation?"), ist aber im Unterschied zu den Russen noch nicht weitergekommen. Der Hauptgrund hierfür ist, dass das ihnen für Versuche zur Verfügung stehende Schwarze Öl ungeeignet ist. Der Plan des Syndikats war deshalb, in den Besitz von Proben des russischen Schwarzen Öls zu kommen. Hierzu wurden Undercover-Agenten nach Tunguska eingeschleust, um Proben aus dem Gulag zu schmuggeln, und die beiden Kuriere wurden zum Transport der Proben in die USA eingesetzt. Die Experimente selbst sollten von Dr. Charne-Sayre, der Virologin, durchgeführt werden. Das ganze Vorhaben war streng geheim und nur sechs Personen bekannt. Als Testpersonen wurden die Patienten in einem Altenheim im Boca Raton verwendet.

Charne-Sayre ist außerdem Mitglied der WHO und als Virologin auf die Untersuchung des Variola- oder Pockenvirus spezialisiert. Da das Katalogisierungsprojekt des Syndikats - administrativ betreut von den Smith-Klonen und mit dem Aktenarchiv in der Strughold-Mine in Verbindung stehend - mit Hilfe der Pockenimpfung durchgeführt wird, ist es sehr naheliegend, dass Charne-Sayre auch damit in Verbindung steht. Offenbar wird das von Scully in "Herrenvolk" aufgedeckte System nicht nur von den Amerikanern, sondern auch von den Russen verwendet; die Testpersonen werden mit Hilfe der mit einem Proteincode versehenen Pockenimpfungsnarben katalogisiert. (Die örtliche Bevölkerung in Tunguska hat hierdurch eine Antwort gefunden, wie den Tests zu entgehen ist: Es wird der linke Arm, der die Pockenimpfungsnarbe trägt, amputiert.)

Als die Russen den Diebstahl der Proben mit dem Schwarzen Öl entdecken, versuchen sie, den Transport in die USA zu stoppen - das Schwarze Öl wird in erster Linie als biologische Waffe und die USA als Konkurrent in einem andaurenden Wettrüsten angesehen ("... the Cold War is not over"). Der vermeintliche Kaffee-Boy Krycek entpuppt sich in "Terma" als russischer Doppelagent, der seit seiner Einführung das Syndikat infiltriert hat und für das vom Raucher gesuchte Informationsleck verantwortlich ist (unklar bleibt, wie er in den Besitz der streng geheimen Information - "only six of us knew!" - über die Impfstoff-Versuche des Syndikats gekommen ist; ebenso, wie er überhaupt in diese ganze Geschichte hineingeraten ist). Krycek sollte sich unter Vorwänden der Terrormiliz anschließen und mit den beiden gebauten Bomben die Proben des Schwarzen Öls zerstören, die in den Besitz der Amerikaner geraten waren, alle Spuren beseitigen, sowie mit Mulders Hilfe die Machenschaften des Syndikats an die Öffentlichkeit bringen. Als Mulder, statt das Syndikat zu entlarven, nach Tunguska fährt, muss Krycek ihm folgen und heuert den ehemaligen KGB-Agenten Vassily Peskow an, um den Auftrag in den USA zu vollenden - was Peskow mit klinischer Effizienz erfüllt. Er tötet Charne-Sayre (was er wie einen Reitunfall aussehen lässt), injiziert Dr. Sacks das Gegenmittel und tötet die Bewohner im Altenheim von Boca Raton, um schließlich den Felsbrocken aus Sacks Labor mit der verbliebenen zweiten Bombe zu zerstören. Abgesehen vom Verlust seines linken Arms hat Krycek seine Pläne erfolgreich zuende gebracht.

In der Zwischenzeit versucht das Syndikat, die Kontrolle über die Geschehnisse wiederzuerlangen. Dem Raucher gelingt es, über sein Informationsnetzwerk herauszubekommen, wo Mulder sich aufhält und wer Dr. Charne-Sayre getötet hat. Der Brite fädelt derweil eine Senatsanhörung ein, um Mulder, Scully und Skinner zumindest vorübergehend aus dem Verkehr zu ziehen und die Untersuchung der Terroranschläge zu verzögern (Scully: "lawyers ask the wrong question only when they don't want the right answers"). Ein Shakespeare-Zitat stellt einen Bezug mit Brutus, dem Mörder von Julius Caesar her: "Senator Sorenson is an honorable man. They are all honorable, these honorable men." (Shakespeare's "Julius Caesar", 3. Akt, Szene II: "For Brutus is an honorable man; So are they all, all honorable men"). Der Brite rückt hier erstmals ins Zentrum des Geschehens: Die ermordete Ärztin arbeitete nicht nur mit ihm zusammen am Impfstoff, sondern er hatte auch ein Verhältnis mit ihr. Als er von ihrem Tod erfährt, sinnt er - der sonst die Methoden des Rauchers verabscheut - auf Rache und fordert den Raucher auf, ihren Mörder zu finden. Auch ihm sind seine Prinzipien nicht allzuviel wert, wenn es um persönliche Interessen geht.

Mit der Erzählung der Vorgänge in Russland und den USA im Zusammenhang mit der Erforschung des Schwarzen Öls scheint der "Tunguska"-Zweiteiler nahezulegen, dass zwischen den Methoden und Motivationen beider Mächte kein allzu großer Unterschied besteht. Beide versuchen, ein Mittel gegen das Schwarze Öl zu finden; im einen Fall werden Gefangene, im anderen Fall Bewohner eines Altenheims als Versuchspersonen missbraucht. Ähnlich wie schon im "Nisei"-Zweiteiler, als die Japaner ihre eigenen Interessen verfolgten, schaffen es die Russen und die Amerikaner selbst dann nicht, zu kooperieren, als das Überleben der gesamten Menschheit gefährdet ist. Die Russen sind darauf fokussiert, sich im biologischen Wettrüsten einen Vorteil zu verschaffen; das amerikanische Syndikat hintergeht die eigene Regierung und ist auch nur bestrebt, die Vorgänge vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Als Scully am Ende der Anhörungen ihre Fall-Akte dem vorsitzenden Senator übergibt, leitet der sie weiter an den Raucher, der sie prompt in den Papierkorb wirft.

"Terma" hat einen Herkules-Job zu bewerkstelligen, die vielen in "Tunguska" angefangenen verworrenen Fäden zuende zu führen und zu entwirren, und ich bin nicht sicher, ob das vollumfänglich gelungen ist. Im Großen und Ganzen werden die Handlungsfäden logisch aufgelöst, aber es kostete mich wiederholtes Ansehen und einiges an Recherche, um das Puzzle zusammenzusetzen, und ich frage mich schon, wie es einem gelegentlichen Zuschauer, der nicht in diesem Maß mit der Serie vertraut ist, damit geht. Mir scheint, dass Carter hier die Zuschauer schon vor eine ziemlich anspruchsvolle Aufgabe stellt. Aber auch "Terma" selber muss so einige Abkürzungen nehmen, um mit der Handlung noch zu Rande zu kommen. Wie Mulder aus Tunguska in die USA kommt, bleibt ebenso der Vorstellung des Zuschauers überlassen wie die Antwort auf die Frage, wie Peskow so einfach in all diese eigentlich bewachten Gebäude und Gelände hinein- und vor allem auch wieder herausgekommen ist. Im Hinblick auf die Inszenierung steht "Terma" dem ersten Teil in nichts nach; die Episode ähnelt wieder mehr einem Kinofilm als einer TV-Episode. Vor allem die Szenen im Gulag und Kryceks Schicksal im Wald, das in der Amputation seines linken Arms resultierte, sind sehr eindrucksvoll inszeniert. Was die schauspielerischen Leistungen angeht, ist Nicholas Lea hervorzuheben, aber auch John Neville als der Brite und Jan Rubes als Vassily Peskow haben mir gut gefallen. Mulders Auftritt in der Senatsanhörung war mir eine Spur zu melodramatisch. Insgesamt hat mir "Terma" nicht ganz so gut gefallen wie "Tunguska"; ich gebe knapp fünf Impfstoff-Injektionen dafür.
nevermore
Administrator
 
Beiträge: 5117
Registriert: Do 12. Jun 2008, 19:43
Wohnort: Outback Stuttgart

Nächste


Ähnliche Beiträge


Zurück zu Carterverse: Akte X, MillenniuM & The Lone Gunmen

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron