Folge 9, Staffel 4: "Tunguska Teil II / Terma"Drehbuch: Chris Carter & Frank Spotnitz
Regie: Rob BowmanMulder gelingt es, aus dem sibirischen Gulag zu entkommen und Krycek als Geisel mitzunehmen, der jedoch fliehen kann. Währenddessen versucht Scully ihre Untersuchungen weiterzuführen, wird aber durch politische Machenschaften daran gehindert. Ein ehemaliger KGB-Agent wird reaktiviert, um sämtliche Spuren der in die USA transportierten Proben des russischen Schwarzen Öls zu zerstören.
Die übliche Akte X-Tagline "The Truth Is Out There" wird in "Terma", dem zweiten Teil des Tunguska-Zweiteilers, ersetzt durch "E Pur Si Muove". "E Pur Si Muove" ist Lateinisch und bedeutet "Und Sie bewegt sich doch", ein Ausspruch, der Galileo Galilei zugeschrieben wird, und sich darauf bezieht, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt. Im weiteren Sinn steht er für die Verteidigung wissenschaftlicher Erkenntnisse gegenüber etablierten Institutionen, die sie leugnen und statt dessen überkommene Dogmen aufrechterhalten. In "Terma" bezieht sich die Tagline auf Mulders Auftritt in der Senatsanhörung, und die Erkenntnis, um die es hier geht, ist die Existenz außerirdischen Lebens in Form des Schwarzen Öls, die von den vom Briten (dem Syndikatsmitglied) eingesetzten Senatoren geleugnet und lächerlich gemacht wird.
In "Terma" erfährt man den Zweck und die Hintergründe des Experiments, dem Mulder am Ende von "Tunguska" unterzogen wurde. Wie sein Zellennachbar, der russische Geologe, erklärt, versucht die russische Regierung, einen Impfstoff oder ein Heilmittel gegen das Schwarze Öl zu entwickeln. Hierzu wird den als Versuchspersonen dienenden Gefangenen zunächst der Impfstoff und dann das Schwarze Öl selbst injiziert. Das russische Schwarze Öl eignet sich im Vergleich zu dem auf der Piper Maru gefundenen sehr gut, da es - wie schon in "Tunguska" ersichtlich wurde - schwächer ist: Es ist nicht in der Lage, den übernommenen Wirt zu kontrollieren, es tötet ihn auch nicht, sondern versetzt ihn nur in ein Koma (es kann allerdings ebenfalls Schutzanzüge durchdringen). Hierdurch wird es zu einem idealen Medium für die Entwicklung eines Impfstoffes.
Weswegen sich das russische Öl anders verhält, darüber hat der Kollege von
Eat The Corn einige Vermutungen angestellt. Er schreibt, dass der jahrmillionenlange Aufenthalt im All in dem Mars-Asterioden sowie die Kälte in Sibirien für die Schwäche des russischen Schwarzen Öls verantwortlich sind. Dies halte ich für eine sehr plausible Theorie: Schon im "Colony/Endgame"-Zweiteiler starb Agent Weiss durch die Infektion mit einem außerirdischen Retrovirus, das bei Kälte inaktiv wurde (was dem ebenfalls infizierten Mulder am Ende das Leben rettete). Das Retrovirus stammte aus dem grünen Blut der Hybridenklone und des außerirdischen Kopfgeldjägers. Die genaue Beziehung zwischen dem Retrovirus und dem Schwarzen Öl ist unklar, die Vermutung, dass die beiden im Zusammenhang stehen liegt jedoch sehr nahe, da aus "The Erlenmeyer Flask" bekannt ist, dass auch das Schwarze Öl auf einem außerirdischen Virus basiert.
Nachdem das Öl in den Körper des Wirts eingedrungen ist, bewegt es sich in Richtung Gehirn und setzt sich, wie Scully bei ihrer Untersuchung von Dr. Sacks feststellt, an der Epiphyse fest. Die Epiphyse steht zum einen mit neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen in Verbindung (was evtl. das Koma erklärt), ist aber in diversen Religionen auch das Organ, das dem sog.
"Dritten Auge" zugeordnet ist. Das "Dritte Auge" steht für die Verbindung zum Göttlichen und soll einen Kanal zu göttlichem Wissen darstellen. Der Aktivierung des Dritten Auges wird auch die Entwicklung übersinnlicher Fähigkeiten wie Hellsichtigkeit zugeschrieben.
Da Mulders Zellennachbar bei der Entdeckung des russischen Schwarzen Öls dabei war, kann dies noch nicht so lange her sein, vermutlich nicht länger als ca. 10 Jahre. Es wurde schnell als ein potenzieller biologischer Kampfstoff identifiziert und es wurde mit Tests und der Suche nach einem Impfstoff oder Heilmittel begonnen. (Man will ja für den Fall, dass die eigenen Leute infiziert werden, gewappnet sein.) Nach einer Vielzahl von Versuchen gelang es den Russen, die Basis für ein Gegenmittel zu entwickeln, das jedoch nur unvollständig funktioniert: Noch sterben die Versuchspersonen nach wiederholter Infektion durch das Schwarze Öl.
Auch das US-amerikanische Syndikat ist auf der Suche nach einem Impfstoff ("How could the Russians know we were working on our own inoculation?"), ist aber im Unterschied zu den Russen noch nicht weitergekommen. Der Hauptgrund hierfür ist, dass das ihnen für Versuche zur Verfügung stehende Schwarze Öl ungeeignet ist. Der Plan des Syndikats war deshalb, in den Besitz von Proben des russischen Schwarzen Öls zu kommen. Hierzu wurden Undercover-Agenten nach Tunguska eingeschleust, um Proben aus dem Gulag zu schmuggeln, und die beiden Kuriere wurden zum Transport der Proben in die USA eingesetzt. Die Experimente selbst sollten von Dr. Charne-Sayre, der Virologin, durchgeführt werden. Das ganze Vorhaben war streng geheim und nur sechs Personen bekannt. Als Testpersonen wurden die Patienten in einem Altenheim im Boca Raton verwendet.
Charne-Sayre ist außerdem Mitglied der WHO und als Virologin auf die Untersuchung des Variola- oder Pockenvirus spezialisiert. Da das Katalogisierungsprojekt des Syndikats - administrativ betreut von den Smith-Klonen und mit dem Aktenarchiv in der Strughold-Mine in Verbindung stehend - mit Hilfe der Pockenimpfung durchgeführt wird, ist es sehr naheliegend, dass Charne-Sayre auch damit in Verbindung steht. Offenbar wird das von Scully in "Herrenvolk" aufgedeckte System nicht nur von den Amerikanern, sondern auch von den Russen verwendet; die Testpersonen werden mit Hilfe der mit einem Proteincode versehenen Pockenimpfungsnarben katalogisiert. (Die örtliche Bevölkerung in Tunguska hat hierdurch eine Antwort gefunden, wie den Tests zu entgehen ist: Es wird der linke Arm, der die Pockenimpfungsnarbe trägt, amputiert.)
Als die Russen den Diebstahl der Proben mit dem Schwarzen Öl entdecken, versuchen sie, den Transport in die USA zu stoppen - das Schwarze Öl wird in erster Linie als biologische Waffe und die USA als Konkurrent in einem andaurenden Wettrüsten angesehen ("... the Cold War is not over"). Der vermeintliche Kaffee-Boy Krycek entpuppt sich in "Terma" als russischer Doppelagent, der seit seiner Einführung das Syndikat infiltriert hat und für das vom Raucher gesuchte Informationsleck verantwortlich ist (unklar bleibt, wie er in den Besitz der streng geheimen Information - "only six of us knew!" - über die Impfstoff-Versuche des Syndikats gekommen ist; ebenso, wie er überhaupt in diese ganze Geschichte hineingeraten ist). Krycek sollte sich unter Vorwänden der Terrormiliz anschließen und mit den beiden gebauten Bomben die Proben des Schwarzen Öls zerstören, die in den Besitz der Amerikaner geraten waren, alle Spuren beseitigen, sowie mit Mulders Hilfe die Machenschaften des Syndikats an die Öffentlichkeit bringen. Als Mulder, statt das Syndikat zu entlarven, nach Tunguska fährt, muss Krycek ihm folgen und heuert den ehemaligen KGB-Agenten Vassily Peskow an, um den Auftrag in den USA zu vollenden - was Peskow mit klinischer Effizienz erfüllt. Er tötet Charne-Sayre (was er wie einen Reitunfall aussehen lässt), injiziert Dr. Sacks das Gegenmittel und tötet die Bewohner im Altenheim von Boca Raton, um schließlich den Felsbrocken aus Sacks Labor mit der verbliebenen zweiten Bombe zu zerstören. Abgesehen vom Verlust seines linken Arms hat Krycek seine Pläne erfolgreich zuende gebracht.
In der Zwischenzeit versucht das Syndikat, die Kontrolle über die Geschehnisse wiederzuerlangen. Dem Raucher gelingt es, über sein Informationsnetzwerk herauszubekommen, wo Mulder sich aufhält und wer Dr. Charne-Sayre getötet hat. Der Brite fädelt derweil eine Senatsanhörung ein, um Mulder, Scully und Skinner zumindest vorübergehend aus dem Verkehr zu ziehen und die Untersuchung der Terroranschläge zu verzögern (Scully: "lawyers ask the wrong question only when they don't want the right answers"). Ein Shakespeare-Zitat stellt einen Bezug mit Brutus, dem Mörder von Julius Caesar her: "Senator Sorenson is an honorable man. They are all honorable, these honorable men." (Shakespeare's "Julius Caesar", 3. Akt, Szene II: "For Brutus is an honorable man; So are they all, all honorable men"). Der Brite rückt hier erstmals ins Zentrum des Geschehens: Die ermordete Ärztin arbeitete nicht nur mit ihm zusammen am Impfstoff, sondern er hatte auch ein Verhältnis mit ihr. Als er von ihrem Tod erfährt, sinnt er - der sonst die Methoden des Rauchers verabscheut - auf Rache und fordert den Raucher auf, ihren Mörder zu finden. Auch ihm sind seine Prinzipien nicht allzuviel wert, wenn es um persönliche Interessen geht.
Mit der Erzählung der Vorgänge in Russland und den USA im Zusammenhang mit der Erforschung des Schwarzen Öls scheint der "Tunguska"-Zweiteiler nahezulegen, dass zwischen den Methoden und Motivationen beider Mächte kein allzu großer Unterschied besteht. Beide versuchen, ein Mittel gegen das Schwarze Öl zu finden; im einen Fall werden Gefangene, im anderen Fall Bewohner eines Altenheims als Versuchspersonen missbraucht. Ähnlich wie schon im "Nisei"-Zweiteiler, als die Japaner ihre eigenen Interessen verfolgten, schaffen es die Russen und die Amerikaner selbst dann nicht, zu kooperieren, als das Überleben der gesamten Menschheit gefährdet ist. Die Russen sind darauf fokussiert, sich im biologischen Wettrüsten einen Vorteil zu verschaffen; das amerikanische Syndikat hintergeht die eigene Regierung und ist auch nur bestrebt, die Vorgänge vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Als Scully am Ende der Anhörungen ihre Fall-Akte dem vorsitzenden Senator übergibt, leitet der sie weiter an den Raucher, der sie prompt in den Papierkorb wirft.
"Terma" hat einen Herkules-Job zu bewerkstelligen, die vielen in "Tunguska" angefangenen verworrenen Fäden zuende zu führen und zu entwirren, und ich bin nicht sicher, ob das vollumfänglich gelungen ist. Im Großen und Ganzen werden die Handlungsfäden logisch aufgelöst, aber es kostete mich wiederholtes Ansehen und einiges an Recherche, um das Puzzle zusammenzusetzen, und ich frage mich schon, wie es einem gelegentlichen Zuschauer, der nicht in diesem Maß mit der Serie vertraut ist, damit geht. Mir scheint, dass Carter hier die Zuschauer schon vor eine ziemlich anspruchsvolle Aufgabe stellt. Aber auch "Terma" selber muss so einige Abkürzungen nehmen, um mit der Handlung noch zu Rande zu kommen. Wie Mulder aus Tunguska in die USA kommt, bleibt ebenso der Vorstellung des Zuschauers überlassen wie die Antwort auf die Frage, wie Peskow so einfach in all diese eigentlich bewachten Gebäude und Gelände hinein- und vor allem auch wieder herausgekommen ist. Im Hinblick auf die Inszenierung steht "Terma" dem ersten Teil in nichts nach; die Episode ähnelt wieder mehr einem Kinofilm als einer TV-Episode. Vor allem die Szenen im Gulag und Kryceks Schicksal im Wald, das in der Amputation seines linken Arms resultierte, sind sehr eindrucksvoll inszeniert. Was die schauspielerischen Leistungen angeht, ist Nicholas Lea hervorzuheben, aber auch John Neville als der Brite und Jan Rubes als Vassily Peskow haben mir gut gefallen. Mulders Auftritt in der Senatsanhörung war mir eine Spur zu melodramatisch. Insgesamt hat mir "Terma" nicht ganz so gut gefallen wie "Tunguska"; ich gebe knapp fünf Impfstoff-Injektionen dafür.