Akte X - Staffel 4




Alles zu Chris Carters Mystery-Serien Akte X, MillenniuM und The Lone Gunmen

Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Mo 8. Apr 2019, 19:47

Folge 20, Staffel 4: "Ein unbedeutender Niemand / Small Potatoes"

Drehbuch: Vince Gilligan
Regie: Cliff Bole



In einem Kleinstadt-Krankenhaus in West Virginia kommen innerhalb weniger Wochen mehrere Kinder mit einem Schwanz zur Welt. Da alle Mütter bis auf eine künstlich befruchtet wurden, wird zunächst der Gynäkologe der Frauen verdächtigt. Doch dann entdeckt Mulder beim Hausmeister des Ärzte-Zentrums eine auffällige Narbe am Steißbein. Es stellt sich heraus, dass der Mann das Aussehen anderer Personen annehmen kann.

Nicht weniger als fünf Babys mit einem Schwanz am Steißbein innerhalb eines Quartals in einer Stadt mit weniger als 15.000 Einwohnern sind mehr als ungewöhnlich, aber, wie Scully richtig beobachtet, an sich kein Grund, das X-Akten-Team herbeizurufen. Mulders Interesse ist, wie sie korrekt vermutet, anders motiviert: Er hat in einem Boulevard-Blatt gelesen, dass eine der Mütter behauptet, der Vater sei aus dem Weltraum gekommen. Dies ist nicht das erste Mal, dass Mulder auf einen Boulevard-Artikel hin eine Untersuchung startet; allein in der ersten Staffel erinnere ich mich an zwei solcher Vorfälle. Der Fall an sich ist in "Small Potatoes" eher nebensächlich und ein Transportmittel für eine Episode, in der es primär um eine eher komödiantische Betrachtung von Mulder und seinen Schrullen geht.

Der Besucher aus dem Weltall, der angeblich die junge Frau schwängerte, war nach ihrer Aussage kein Außerirdischer, sondern Luke Skywalker - die junge Frau ist ein völliger Star Wars-Nerd und hat die Filme 368 mal gesehen. Der Täter, Eddie van Blundht, dargestellt von Drehbuchautor Darin Morgan, ist ein Jugendfreund von ihr - ebenfalls ein Star Wars-Fan - und hat eine ererbte genetische Anomalie, aufgrund derer er nicht nur mit einem Schwanz geboren wurde (den er chirurgisch entfernen ließ), sondern auch seine Gestalt wandeln und das Äußere von anderen Männern annehmen kann. Indem er die Gestalt von Luke Skywalker und den Ehemännern annimmt, kommt er zu fünffacher Vaterschaft.

Als Eddie schließlich Mulders Gestalt annimmt, ist das die Gelegenheit, Mulder aus einer anderen Perspektive, nämlich durch Eddies Augen, zu sehen. Er erkundet Mulders Kellerbüro und seine Wohnung (wobei wir erfahren, dass Mulder weder ein Bett noch ein Schlafzimmer hat), und hört seinen Anrufbeantworter mit Anrufen von Langley - der ihm irgendetwas im Zusammenhang mit der Verschwörungstheorie um dass Attentat auf JFK erzählt - und einer Telefonsex-Anbieterin ab. Er versucht dann, sich an Scully heranzumachen, und muss erst einmal erfahren, dass die den Freitag Abend am liebsten mit wissenschaftlichen Abhandlungen verbringt. Später taucht er dann - in Mulders Gestalt - mit einer Flasche Wein bei Scully zuhause auf, und will sich mit ihr unterhalten. "Richtig unterhalten", wie er sagt, und Scully stimmt ihm zu, dass die beiden das eigentlich nie tun. Es war nett und trug zu Scullys Charakterentwicklung bei, dass sie von ihren Highschool-Erlebnissen erzählte. Scully schien diese ihr unbekannte Seite des vermeintlichen Mulder zu mögen; vielleicht lag es am Wein, dass sie keinen Verdacht schöpfte, denn nicht nur Eddies Interesse an Scullys Highschool-Erlebnissen, sondern sein Verhalten an sich hatten nicht viel mit dem echten Mulder gemein. Es kam sogar beinahe zum - von Shippern bereits lange ersehnten - Kuss, den aber gerade noch der hereinplatzende echte Mulder vereitelte.

Darin Morgan tritt zwar in dieser Episode nur als Darsteller von Eddie van Blundht auf und nicht als Drehbuchautor, die Ähnlichkeiten von Vince Gilligans Skript mit Morgans Drehbüchern sind aber unübersehbar. Die Geschichte ist komödiantisch und nimmt vor allem Mulder aufs Korn, hat aber auch ein tiefsinnigeres Thema, das von Mulder und Scully früh in der Episode angesprochen wird: "Looking like someone else, Mulder, and being someone else are completely different things." - "Well, maybe it's not, I mean everybody else around you would treat you like you were somebody else, and ultimately maybe it's other people's reactions to us that make us who we are." Eddie sieht Mulder als jemanden, der durch freie Entscheidung ein "Loser" ist: "I was born a loser, but you're one by choice," und begründet dies mit seiner eigenen Erfahrung als "Mulder" - sein Kellerbüro, die Wohnung ohne Schlafzimmer, als Freunde hat er Geeks wie Langley und Telefonsex statt eines Liebeslebens. Eddie - der von seinem Vater gesagt bekam, die Entfernung des Schwanzes sei ein Fehler, weil er das einzige ist, was an Eddie etwas Besonderes ist - kann nicht verstehen, warum Mulder mit seinen Begabungen und seinem guten Aussehen nicht mehr aus seinem Leben macht. Eddie selbst wiederum will aus seinem langweiligen Leben als Hausmeister ausbrechen und nimmt die Gestalt aller möglicher Leute an, schafft es aber irgendwie doch nicht, dauerhaft ein Anderer zu sein und kehrt immer wieder zu seiner ursprünglichen Gestalt und seinem Job als Hausmeister zurück. Abgesehen davon, dass irgendjemand früher oder später merken würde, dass er kein langjähriger FBI-Mitarbeiter ist - wenn man schon Federal Bureau of Investigation zweimal innerhalb desselben Berichts falsch schreibt, muss das bei irgendjemandem Verdacht erregen - ist Eddie in seinem Verhalten und seiner Persönlichkeit erkennbar immer Eddie, egal, ob es in seinem Begegnungen mit Amanda oder mit Scully oder in den Häusern der betrogenen Ehemänner ist. Die Eingangsfrage wird in "Small Potatoes" klar zugunsten von Scullys Sichtweise beantwortet.

Ebenfalls Darin-Morgan-typisch sind die skurrilen und bei aller Skurrilität auch etwas tragischen Charaktere, und die bei aller Komik sich durch die Episode ziehende unterschwellige Melancholie. Neben Eddie, der sogar von seinem Vater und seiner Highschool-Liebe Amanda als "Loser" bezeichnet wird, ist da noch Amanda selbst, die 368 Mal Star Wars gesehen hat und allen Ernstes glaubt, von Luke Skywalker geschwängert worden zu sein.

Trotz seiner Taten, für die er zurecht im Gefängnis landet, ist Eddie van Blundht eines der sympathischsten Monster in Akte X. Besonders in jüngerer Zeit wurde von einigen PC-Kreuzrittern eine Menge Aufhebens um den Tatbestand gemacht, dass Eddie eigentlich ein Serienvergewaltiger ist und die Folge dies ungenügend thematisiere. Ich finde es bezeichnend, dass dies in keinem frühen Review ein Kritikpunkt war, selbst von erklärten Feministinnen nicht. Man könnte auch mal die Kirche im Dorf lassen. Es ist eine surreale Komödie, und Eddie wird nun wirklich nicht zum Helden stilisiert, sondern landet im Gefängnis. Es ist m.E. in einer solchen Folge nicht nötig, zusätzlich noch einen Vortrag zu halten, wie verwerflich eine Vergewaltigung ist.

"Small Potatoes" ist eine sehr unterhaltsame Episode mit vielen witzigen Szenen, darunter Eddies Erkundung von Mulders Büro und Wohnung, Eddie und Scully in Skinners Büro, der "Mulder" für seine Tippfehler tadelt, oder Scully, die sich in der Autopsie über die intakte Leiche von van Blundht Senior freut, während Mulder tollpatschigerweise den Schwanz abbricht. Sie lebt vor allem von den schauspielerischen Leistungen David Duchovnys, dem es sichtlich Spaß macht, einen völlig anderen Charakter in Mulders Haut zu spielen und dessen komödiantisches Talent hier voll zur Entfaltung kommt. Auch Morgan als Eddie hat mir gut gefallen. Ein paar kleine Logikfehler hat die Episode auch; die als Begründung für die Verwandlungsfähigkeit angeführte Muskelschicht unter der Haut kann eigentlich nicht dazu führen, dass sich Haar- und Augenfarbe, die Körpergröße und auch die Stimme verändern. Letztlich glaube ich, auch das sollte man in dieser Episode nicht so ernst nehmen. Ich gebe fünf abgebrochene Schwänze dafür.
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Sa 13. Apr 2019, 20:52

Folge 21, Staffel 4: "Der Pakt mit dem Teufel / Zero Sum"

Drehbuch: Howard Gordon & Frank Spotnitz
Regie: Kim Manners



In einem Postverteilerzentrum in Virginia wird eine Beschäftigte auf der Damentoilette von einem Bienenschwarm attackiert und stirbt. Der Raucher beauftragt Skinner, sämtliche Spuren des Vorfalls zu beseitigen. Dabei gibt sich Skinner bei der örtlichen Polizei als Mulder aus und ein Polizist kommt zu Tode. Mulder ist entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, nicht wissend, dass es Skinner ist, dem er auf den Fersen ist.

"Zero Sum" nimmt einen in "Memento Mori" begonnenen Handlungsfaden wieder auf: Skinner hat mit dem Raucher einen Pakt geschlossen, um ein Heilmittel gegen Scullys Krebs zu erlangen, von dem er glaubt, dass es im Besitz des Rauchers ist. Unklar blieb in "Memento Mori", was genau von Skinner als Gegenleistung erwartet wird. Davon bekommen wir nun in "Zero Sum" einen Eindruck: Skinner soll für den Raucher die unangenehmen Aufgaben erledigen - dazu gehört, Daten von Mulders Computer zu löschen, die Toilette im Postverteilerzentrum zu reinigen, die Leiche zu beseitigen und was sonst noch an Vertuschungaktionen dazugehört. Man hat den Eindruck, dass es hier mehr als alles andere um eine Machtdemonstration des Rauchers geht: Es ist kaum anzunehmen, dass der Raucher außer Skinner niemand anderen für solche Arbeiten zur Verfügung hat. Es geht hier darum, Skinner, der dem Raucher immer mal wieder mehr oder weniger große Schwierigkeiten machte, zu demütigen und einen Konflikt zwischen ihm und Mulder anzuzetteln, der in dieser Episode beinahe zu einem Antagonisten von Skinner wird.

Skinners Position ist hier höchst undankbar; er tut, was ihm gesagt wird, in der vagen Hoffnung, dass der Raucher Scully retten wird. Zu allem Überfluss töten der Raucher und ein anderes Syndikatsmitglied einen örtlichen Polizisten, der den Fall bearbeitet, wofür sie Skinners zuvor entwendete Waffe benutzen. Als Skinner den Raucher mit dem Tod des Polizisten konfrontiert und andeutet, aus dem Deal aussteigen zu wollen, antwortet der ihm, "you'll find it's not that easy to walk away from, Mr. Skinner." Zum einen versucht der Raucher, ihm den Mord an dem Polizisten anzuhängen, zum anderen ist da immer noch die Hoffnung, dass er ein Heilmittel für Scully besitzt.

"Zero Sum" wird mehr oder weniger aus Skinners Blickwinkel erzählt, und man beginnt zu verstehen, wodurch seine permanente schlechte Laune verursacht ist. Skinner ist ein Mann ohne hintergründige politische Agenda, der nur seinen Job machen will, Recht und Gesetz aufrechtzuerhalten, und der ehrlich besorgt um Scully ist und ihr helfen will. Aber jetzt ist er in einer Position, in der er dank des Pakts mit dem Raucher ständig Kompromisse machen muss, er sich in Lügen und Täuschungsmanöver verstrickt und seine Integrität kaum noch aufrechzuerhalten ist. Er ist gezwungen, Mulder zu hintergehen, ein Polizist wurde infolge seiner Aktivitäten getötet, und der Raucher ist jederzeit in der Lage, seine Waffe verfolgen zu lassen und ihn hinter Gitter zu bringen. Indirekt ist Skinner sogar für den Tod des Entomologen Dr. Valdespino und die Bienenattacke und Pockeninfektion einer Gruppe von Schulkindern mitverantwortlich. Ein Heilmittel für Scully ist dabei immer noch nicht in Sicht. Am Ende bezweifelt er, dass der Raucher jemals Scully helfen wollte, und droht, ihn zu erschießen, tut es dann aber doch nicht. Die Episode erzählt hier eine klare Moral: Aus Bösem kann nichts Gutes kommen. Skinner hat sich durch den Pakt mit dem Raucher - den man in "Zero Sum" mehr als einmal am liebsten an eine Wand klatschen möchte - in eine unmögliche Lage gebracht ("a man digs a hole, he risks falling into it"), die erst besser wird, als er Mulder die Wahrheit sagt, und dieser die Identifikationsnummer aus Skinners Waffe feilen lässt. Sein Ziel, Scully zu retten, so die Aussage der Episode, kann er nicht erreichen, indem er mit unmoralischen Leuten Abkommen trifft und moralisch nicht zu rechtfertigende Handlungen begeht.

Wiederaufgenommen wird in "Zero Sum" auch ein in "Herrenvolk" angefangener Handlungsfaden: Die Bienen, auf die Mulder und Jeremiah Smith auf der Farm in Kanada trafen, tauchen wieder auf und man erfährt, was ihre Funktion in der Geschichte ist: "Somebody is trying to engineer a method of delivery, for a disease that has killed more people throughout history than any other contagion known to humankind". Die Bienen dienen als Überträger des Pockenvirus, der eigentlich als ausgerottet gilt und an dem bereits der Montagearbeiter in "Herrenvolk" durch Bienenstiche gestorben ist. Der Pockenvirus, der hier im Einsatz ist, ist eine mutierte Variante; er hat keine Inkubationszeit von mehreren Tagen wie der ursprüngliche Variola-Virus, sondern tötet innerhalb kürzester Zeit. In "Zero Sum" fallen ihm die Postmitarbeiterin, der Entomologe Dr. Valdespino sowie eine ganze Schulklasse in Payson, South Carolina, zum Opfer. Die Bienenangriffe sind erschreckend anzusehen, besonders der Angriff auf die Kinder könnte aus einem Hitchcock-Film stammen. Der "Somebody", der dahinter steckt, ist natürlich das Syndikat; was genau der Zweck des Experiments ist, lässt die Episode noch offen, aber später im Kinofilm "Fight the Future" wird dies offenbart.
Was letztlich gesucht wird, ist eine Methode, das Virus im Schwarzen Öl, also Purity, schnellstmöglich zu verbreiten - das Experiment ist ein wesentlicher Bestandteil zur Vorbereitung der Kolonisierung. In der Staffel 2-Episode "F. Emasculata" war ein Vorläufer dieser Experimente zu sehen, in dem ein durch ein Insekt übertragener Parasit getestet wurde.
Die Vermutung liegt nahe, dass der mutierte Pockenvirus unter Leitung der in "Terma" ermordeten Virologin Dr. Charne-Sayre geschaffen wurde.

Etwas mehr erfährt man in "Zero Sum" auch endlich über die neue Informantin Marita Covarrubias. Es stellt sich heraus, dass sie eine Doppelrolle spielt. Sie ist offensichtlich mit dem Syndikat involviert, versucht aber andererseits auch, Mulders Sache zu helfen. Einerseits treibt sie Skinner an, die Angelegenheit mit den Bienen zu verfolgen und an die Öffentlichkeit zu bringen, andererseits hat sie Kontakt mit dem Raucher und es war schon in "Herrenvolk" klar, dass ihr Büro abgehört wird. (Auch hier sitzt bei ihrem Telefonat mit dem Raucher wieder jemand in ihrem Büro; aller Wahrscheinlichkeit nach ein Syndikatsmitglied.)

Wie schon der "Tempus Fugit"-Zweiteiler und "Memento Mori" ist "Zero Sum" eine Mythologieepisode, die die Rahmenhandlung nur wenig voranbringt und sich statt dessen mit den Folgen für die Charaktere beschäftigt. Vor allen scheint die Folge dazu gedacht zu sein, ein moralisches Statement zu machen, das sich unterschwellig schon länger durch die Serie zieht. "Zero Sum" macht klar, dass Skinner mit seinem Pakt mit dem Raucher Scully nicht retten wird. Immer wieder in der Serie taucht das Leitmotiv auf, dass das Böse infektiös ist und bekämpft werden muss. Moralischer Pragmatismus in dem Sinn, dass der Zweck die Mittel heiligt, wird von Akte X immer wieder abgelehnt. Das letzte Beispiel war der Mitarbeiter des Rüstungsunternehmens Garrett im "Tempus Fugit"-Zweiteiler, ein anderes Beispiel ist Bill Mulder, der Samantha opferte, um seine Familie zu retten.
wie überhaupt das Syndikat den Kuhhandel mit den Kolonisten eingeht, in der Hoffnung, sich und ihre Familien zu retten und letztendlich von diesen hereingelegt wird.
Nicht zufällig ist der Raucher als Hauptvertreter dieser Philosophie in der Serie der wichtigste menschliche Bösewicht.

"Zero Sum" ist eine spannende Episode, die ihren Reiz daraus bezieht, dass man als Zuschauer das Geschehen aus Skinners Perspektive erlebt und dabei erfährt, was es heißt, wenn einem Mulder auf den Fersen ist. Mulders Misstrauen, seine Hartnäckigkeit und seine investigativen Fähigkeiten machen Skinner das Leben hier extrem schwer und die Szene, als Mulder dahinterkommt, wen er da die ganze Zeit verfolgt hat, ist großartig. Die darauffolgende Konfrontation zwischen beiden ist hochdramatisch inszeniert, und gehört zusammen mit seinem Zusammenstoß mit dem Raucher zu den besten Szenen der Episode. Die schauspielerischen Leistungen aller drei Darsteller sind hier sehenswert; überhaupt ist die Leistung Mitch Pileggis über die ganze Episode hinweg in der Rolle des konfliktgeplagten und von seinem eigenen Mitarbeiter verfolgten Skinner großartig. Weitere eindrucksvolle Szenen sind die wunderbar gruseligen Bienenangriffe, vor allem auf dem Schulhof in South Carolina. Ich vergebe gute fünf Bienenschwärme dafür.
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Mo 15. Apr 2019, 16:36

Folge 22, Staffel 4: "Todes-Omen / Elegy"

Drehbuch: John Shiban
Regie: James Charleston



Der Betreiber einer Bowling-Bahn in Washington, D.C. sieht in seiner Anlage die Erscheinung einer Frau, die kurz darauf auf dem Parkplatz ermordet aufgefunden wird. Es ist bereits der dritte Fall dieser Art innerhalb weniger Wochen. In der Bowling-Anlage findet sich außerdem die Nachricht "She Is Me". Bald hat Scully selbst eine Vision von einer Frau, kurz bevor ein weiteres Opfer stirbt. Hauptverdächtiger der Polizei ist ein autistischer Insasse der nahegelegenen Psychiatrie, der in den Bowling-Bahn beschäftigt ist.

"Elegy" ist eine eher melancholische Episode, in der ein Monster of the Week-Fall eine Auseinandersetzung der beiden Agenten mit Scullys Krebsdiagnose transportiert. Der Fall selber ist, wie leider nicht selten bei Shibans Skripts, ein absolutes Durcheinander zusammengewürfelter Ideen. Der Hauptverdächtige ist ein austistischer Mann namens Harold, der alle Bowling-Ergebnisse sämtlicher Kunden auswendig kann und in einer nahegelegenen psychiatrischen Einrichtung lebt. Die paranormalen Geschehnisse drehen sich um Erscheinungen der Opfer, die von verschiedenen Leuten gesehen werden - oder, wie Mulder es ausdrückt, um "Todesomen" - und zwar von Leuten, die selber dem Tode nahe sind. Wie sich herausstellt, ist nicht Harold der Täter, sondern eine Krankenschwester in der Psychiatrie, die von ihrem Mann wegen einer anderen Frau verlassen worden ist. Die Opfer gleichen optisch der Nebenbuhlerin; vermutlich bezieht sich auch die Nachricht "She Is Me" darauf, wenn auch nicht ganz klar wird, was genau die Aussage ist. Völlig unklar bleibt auch, wie die Nachricht auf den Boden der Bowling-Bahn gekommen ist.

Ein weiteres Problem sind, auch wieder einmal, die Gastcharaktere. Bereits die Darstellung von Harold und den anderen Psychiatrieinsassen fand ich reichlich stereotyp, und Schwester Innes ist ein wandelndes Klischee. Keiner der Charaktere, auch Harold nicht, wird soweit entwickelt, dass für den Zuschauer eine Beziehung zu ihm oder ihr entsteht. Dass Akte X das besser kann, hat man bspw. in der Staffel 1-Episode "Roland" gesehen. Es hilft auch nicht, dass der vermeintlich zentrale Charakter Harold dann Off-screen getötet und sofort wieder vergessen wird. Das Motiv von Innes, die Frauen zu töten, weil ihr Ex-Mann mit einer ähnlich aussehenden Frau durchgebrannt ist, hat mich persönlich nicht überzeugt; allenfalls glaubwürdig fände ich das, wenn, wie angedeutet wird, Innes entweder selbst psychisch krank ist und / oder unter Medikamenteneinfluss steht. Das wird aber nie wirklich geklärt, es heißt zwar, dass sie Harolds Medikamente stiehlt, aber einen Grund dafür erfährt man nicht. Es bleibt auch bis zum Ende völlig unklar, weswegen ausgerechnet bei diesen Fällen plötzlich Todesomen erscheinen.

"Elegy" funktioniert am besten, wenn man die Episode als eine Charakterstudie über Scully betrachtet, die mit ihrer Krebsdiagnose kämpft. Gillian Anderson ist hier in Top-Form, mit einer Scully, die sehr viel introvertierter wirkt als noch in der ersten Staffel, als sie immer wieder mal für einen flapsigen Kommentar zu haben war. Nach außen hin weiterhin die stoische Skeptikerin sieht man eine viel verletzbarere Scully in den Szenen, in denen sie alleine ist. Ihr völlig verstörter Gesichtsausdruck, als sie zum ersten Mal in der Damentoilette das Todesomen sieht, ist ebenso großartig gespielt wie die Szene am Schluss, als sie allein im Auto in Tränen ausbricht. Auf Mulders wiederholte besorgte Nachfragen versichert sie immer wieder, "I'm fine", "I'm fine", aber es ist völlig klar, dass sie das nicht ist. Gut gelungen und aufschlussreich war auch die Szene bei der psychologischen Beraterin, als sie über ihre Gründe, weiterhin zu arbeiten, und ihr Verhältnis zu Mulder spricht: "I guess I never realized how much I rely on him before this ... his passion ... He's been a great source of strength that I've drawn on." Mulder seinerseits fühlt sich hilflos angesichts der Krankheit und ist wütend, weil er nichts tun kann und weil Scully ihm ständig nur versichert, es gehe ihr gut - was offensichtlich nicht der Wahrheit entspricht: "You can't hide the truth from me because if you do, then you're working against me ... and yourself." Shibans Drehbuch scheint hier zu bestätigen, was Scully in der Episode "Never again" schon andeutete, und auch die Psychologin vermutet: Dass Scully in Mulder auch eine Art Autoritätsfigur sieht, die sie nicht enttäuschen will.

Letztlich sind es diese Charakterelemente, die die Episode retten, denn der Fall selber hat zwar eine Menge interessanter Ideen, ist aber zu sehr mit Klischees überfrachtet und insgesamt zu wirr. Zwar ist die Idee einer Spuk-Geschichte in einer Bowling-Bahn originell, das Drehbuch scheint aber nie zu wissen, wohin sie führen soll. Die Episode schlägt nach einer halben Stunde völlig unvermittelt einen Haken und wird zu einer Geschichte über einen psychisch Kranken, der von einer sadistischen Schwester misshandelt wird - was aber auch nicht funktioniert, weil die Charaktere reine Stereotypen sind und auch die Motivation der Schwester nicht überzeugend ist. Die Erkundung von Scullys Seelenzustand und ihrem Verhältnis zu Mulder ist dagegen großartig gelungen, und besonders Gillian Andersons schauspielerische Leistung ist hervorzuheben. Ich vergebe knapp vier Geisterscheinungen für "Elegy".
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » So 21. Apr 2019, 21:01

Folge 23, Staffel 4: "Dämonen / Demons"

Drehbuch: R. W. Goodwin
Regie: Kim Manners



Mulder wacht in einem Motelzimmer in Rhode Island auf und kann sich nicht erinnern, was er dort tut, wie er dort hinkam, oder was in den letzten beiden Tagen geschehen ist. Er steht unter Schock und sein Hemd ist mit Blut verschmiert, von dem er glaubt, dass es nicht sein eigenes ist. Als er Scully herbeiruft und sie die Ereignisse zurückverfolgen, stoßen sie auf ein erschossenes Ehepaar. Die herbeigerufene örtliche Polizei hält aufgrund der Spuren und Mulders Gedächtnislücken Mulder für den Tatverdächtigen.

Ob die jüngsten Entwicklungen um Scullys Krebserkrankung verantwortlich sind, die Infektion mit dem Schwarzen Öl im "Tunguska"-Zweiteiler oder die Konfrontation mit der in "Paper Hearts" aufgeworfenen Möglichkeit, Samantha sei von einem Serienkiller entführt worden - in "Demons" hat Mulders Obsession mit der Frage, was mit seiner Schwester geschah, definitiv den Point of No Return überschritten. Er hat an einer aggressiven psychiatrischen Behandlung teilgenommen, die Erinnerungen aus seiner Vergangenheit ans Tageslicht bringen sollte. Die Folge war ein Gedächtnisverlust von zwei Tagen, womit er noch glimpflich wegkam; drei andere Menschen haben die Folgen derselben Behandlung das Leben gekostet: Amy Cassandra, die offenbar sich selbst und ihren Mann erschossen hat, und einen örtlichen Polizisten, der ebenfalls Selbstmord beging. Vor diesem Schicksal konnte Mulder gerade noch von Scully bewahrt werden - die Szene am Schluss der Episode impliziert sehr stark, dass Mulder am Rande des Selbstmords war, als Scully in dem Sommerhaus in Quonochontaug eintraf.

Dr. Goldsteins unkonventionelle Therapie versuchte, verdrängte Erinnerungen hervorholen, indem das Gehirn mittels Licht und Klängen durch eine spezielle Brille und Kopfhörer stimuliert wird. Dann wird dem Patienten Ketamin injiziert, ein Anästetikum, das dafür bekannt ist, Halluzinationen hervorrufen zu können. Die Droge wurde auch an amerikanischen Soldaten im Vietnam-Krieg angewandt. Im abschließenden Schritt der Therapie wird dem narkotisierten Patienten an der Stelle der Epiphyse ein Loch in den Kopf gebohrt. Dort ist das sog. "Dritte Auge" lokalisiert, das in verschiedenen Glaubensrichtungen als Kanal zu übersinnlichen Wahrnehmungen betrachtet wird.

Sowohl Amy Cassandra als auch der Polizist Michael Fazekas glaubten, Entführungsopfer Außerirdischer zu sein, und kontaktierten Goldstein, um an die verdrängten Erinnerungen über ihre Entführung zu kommen. Durch einen Artikel über Amy in einer UFO-Zeitung kam Mulder zu den Informationen über Goldsteins Therapie und wollte sie nutzen, um sich an die Nacht von Samanthas Entführung zu erinnern. Zu den Nebenwirkungen der Therapie scheinen Zwangshandlungen zu gehören; so malte Amy Cassandra immer wieder Bilder ihres Elternhauses und Fazekas schnitt sein eigenes Bild aus Fotos in seinem Familienalbum heraus - beides hat mit der persönlichen Geschichte zu tun. Darüber hinaus litten die Patienten unter Krampfanfällen, Kopfschmerzen und Blackouts, und schließlich schweren Depressionen mit der Folge von Suizidversuchen.

Letztlich dient die Rahmenhandlung mit den Todesfällen dazu, dem Zuschauer Einblick in Mulders Gedankenwelt zu verschaffen und mehr über seine Vergangenheit zu erfahren. "Demons" bestätigt, was sich schon in früheren Episoden andeutete - dass schon vor Samanthas Entführung das Familienleben der Mulders keine Idylle war. Immer wieder ist ein Streit zwischen Mulders Eltern zu sehen und eine verängstigte Samantha, die nach ihrem ebenfalls verstört aussehenden Bruder ruft. Es geht um Samantha bei den Streitgesprächen, Mrs. Mulder klagt ihren Mann an, "how can you do this to our family?" und Mr. Mulder antwortet, dass er Befehle bekomme. Auch der Raucher ist in den Rückblenden zu sehen; er bezeichnet Fox als "little spy" und andere Bilder suggerieren, dass er ein Verhältnis mit Mulders Mutter hat. Immer wieder sind auch Fetzen des Entführungsabends zu sehen, und am Schluss sieht man, wie Samantha davongetragen wird. Infolge der Flashbacks konfrontiert Mulder seine Mutter, und will von ihr wissen, wer sein Vater ist. Teena Mulder ist erbost und verweigert ihm jegliche Antwort, aber es ist recht offensichtlich, was die Antwort ist.
Man kann sich aus diesen Bildern und mit dem Wissen aus späteren Episoden in etwa zusammenreimen, was passiert ist: Die Aliens wollten bekanntlich ein genetisches Mitglied jeder Familie des Syndikats im Austausch gegen die Übergabe des Fötus. Ursprünglich sollte Mulder derjenige sein, der aus der Mulder-Familie übergeben werden sollte. Da Mulders Vater aber nicht Bill Mulder, sondern der Raucher ist, musste es Samantha sein. Vermutlich wurde an diesem Abend Bill Mulder eröffnet, dass seine Frau ein Verhältnis mit dem Raucher hatte und Fox ein Kind aus dieser Beziehung ist.

Die Frage bleibt, ob diese Erinnerungen authentisch sind. Scully hat diesbezüglich Zweifel und schreibt sie dem Waxman-Geschwind-Syndrom zu, einer neurologischen Erkrankung, die mit Trance-artigen Zuständen einhergehen kann. Es könnte also sein, dass es sich bei den Halluzinationen um Bilder aus Mulders Unterbewusstsein handelt, die nicht notwendigerweise den wahren Geschehnissen entsprechen müssen. Es könnte aber auch sein, dass es Scully ist, die hier versucht, sich selbst zu überzeugen, dass die Erinnerungen unecht sind - bekanntlich hat sich Scully immer dagegen gesträubt, an die Erinnerungen an ihre eigene Entführung heranzukommen. Scullys Erklärung der Halluzinationen mit dem Waxman-Geschwind-Syndrom überzeugt mich nicht; ich halte es nicht für plausibel, dass sowohl Amy Cassandra als auch der Polizist und Mulder unter demselben Syndrom litten. Wahrscheinlicher ist, dass die Symptome durch Goldsteins Behandlung hervorgerufen wurden. Die Episode lässt diese Möglichkeit aber offen.

Mulders Obsession, die Wahrheit über die Vorgänge in seiner Familie herauszufinden, hat in "Demons" wirklich zwanghafte Formen angenommen und es ist selbst angesichts Teena Mulders eigenen Problemen langsam nicht mehr verständlich oder verzeihlich, dass sie ihrem Sohn nicht endlich die Wahrheit sagt. Die seit Jahrzehnten verdrängten Erinnerungen kommen durch Goldsteins Therapie nun gewaltsam an die Oberfläche, und man weiß nicht, ob sie verzerrt sind oder die realen Ereignisse widerspiegeln. Mulders "I need to know" am Ende der Episode zeigt, dass er sich dessen selber nicht sicher ist. Die Ungewissheit treibt ihn in "Demons" an den Rand des Selbstmords. Zwar kann ihn Scully noch davor bewahren, aber sie macht sich große Sorgen um ihn: "Agent Mulder undertook this treatment hoping to lay claim to his past--that by retrieving memories lost to him, he might finally understand the path he's on, but if that knowledge remains elusive, and if it's only by knowing where he's been that he can hope to understand where he's going, then I fear agent Mulder may lose his course, and the truths he's seeking, from his childhood, will continue to evade him ... driving him more dangerously forward in impossible pursuit."

Ich fand "Demons" eine sehr eindrucksvolle Episode, in der vor allem David Duchovny wieder eine seiner Sternstunden hatte. Die Rückblenden sind hervorragend inszeniert, so dass man als Zuschauer die Träume beinahe selbst zu durchleben scheint. Die stilisierten Bilder und die Schnitttechnik waren vor allem für die 90er Jahre geradezu revolutionär. Dass Mulder in "Providence" aufwachte, ist ein nettes Stück Symbolik; the "Eye of Providence", das Auge der Vorsehung, das mit den religiösen Untertönen der Serie in Verbindung steht. Die Rahmenhandlung um das erschossene Ehepaar hat ein paar Löcher; so wird nie aufgelöst, was zu deren Todeszeitpunkt geschehen ist, weswegen mit Mulders Waffe geschossen wurde und warum er überhaupt dort anwesend war. Da diese Rahmenhandlung aber ohnehin nur als Transportmittel dient, sind diese Kritikpunkte sekundär. "Demons" ist eine weitere gut gelungene Mythologieepisode, die die Handlung um die Mulder-Familie weiterbringt. Ich vergebe fünf medizinische Bohrer dafür.
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » So 28. Apr 2019, 22:08

Folge 24, Staffel 4: "Gethsemane / Gethsemane"

Drehbuch: Chris Carter
Regie: R. W. Goodwin



Ein Geologenteam findet in einem kanadischen Gletscher eine Leiche, die vermeintlich außerirdisch ist. Proben aus dem Eis und ein Foto der Leiche werden an einen Wissenschaftler geschickt, der Mulder herbeirufen lässt. Als Mulder sich mit dem Wissenschaftler zusammen aufmacht, um die Leiche zu bergen, finden sie das Geologenteam bis auf ein Teammitglied tot vor. Währenddessen wird Scully, die die Eisproben untersuchen lässt, von einem Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums angegriffen, der später beiden Agenten erzählt, dass alle Hinweise auf die Anwesenheit außerirdischen Lebens auf der Erde Teil einer von der Regierung inszenierten Lügengeschichte sind.

"Believe The Lie" lautet die Tagline von Gethsemane, und sie ist durchaus mehrdeutig, wenn sich auch die Mehrdeutigkeit erst in den kommenden Episoden erschließt.
Neben der Bedeutung, dass Mulder eine Lüge glauben sollte, kann sie auch als Aufforderung gelesen werden, an die Lüge über Mulders Selbstmord zu glauben, oder als Hinweis auf den Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums Michael Kritschgau, der selber einer Lüge aufgesessen ist.
Zunächst geht es offensichtlich darum, dass Scully vor ein Senatskommittee tritt, und sich anscheinend gegen Mulder gewendet hat. Sie hat am Morgen Mulders Leiche in dessen Wohnung identifiziert und will nun dessen Arbeit als das Resultat einer Lüge entlarven. "Gethsemane" ist der Garten, in dem Jesus am Vorabend seiner Kreuzigung verraten wurde. Scullys Auftritt in der Anhörung - unter dem Vorsitz von Sektionschef Blevins, der sie seinerzeit Mulder zuteilte, um dessen Arbeit zu entlarven - ist bewusst so inszeniert, dass der Eindruck entsteht, Scully habe nun ihren ursprünglichen Auftrag erledigt und erstatte ihren Endbericht, um Mulder posthum zu diskreditieren. "I am here today to expose this lie. To show the mechanism of deception that drew him and me into it. And to expose Agent Mulder’s work for what it is." Zwar weist sie darauf hin, dass sowohl er als auch sie getäuscht wurden, dennoch bleibt der Eindruck, dass sie hier Mulder, der tot ist und sich nicht mehr wehren kann, in den Rücken fällt.

Von Anfang an war die Vermischung von Lügen und Wahrheiten ein zentrales Thema der X-Akten, am besten zum Ausdruck gebracht von Deep Throat in "E.B.E.": "A lie, Mr. Mulder, is most convincingly hidden between two truths." Was der Mitarbeiter des Verteidigungsministerums Kritschgau Mulder und Scully erzählt, bedeutet, dass Mulders Glaube an Aliens und alles, was er und Scully gesehen haben, auf einer Lüge basiert. In Kritschgaus Version ist der militärisch-industrielle Komplex für alles verantwortlich, was mit UFO-Sichtungen und Entführungen zu tun hat. Die vermeintlichen UFOs sind experimentelle Flugzeuge, die Entführungen sind vom Verteidigungsminsterium inszeniert, es werden Cover-Stories erfunden und Falschinformationen verbreitet, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Die UFO-Hysterie kam dabei gerade recht: "The more we denied it, the more people thought it was true: aliens had landed". Das Anliegen der Desinformationskampagne ist es, die hohen Militärausgaben zu rechtfertigen, die die Ökonomie am Laufen halten, und die geheimen Experimente des Verteidigungsministeriums mit Biowaffen und experimentellen Flugzeugen zu vertuschen. Mulder und andere UFO-Gläubige sollten sehen, woran sie gerne glauben wollten, und wurden in Wahrheit dazu missbraucht, um von den Grausamkeiten, die die Regierung beging, abzulenken.

Kritschgaus Geschichte erinnert stark an die Handlung von Darin Morgans Episode "José Chung's 'From Outer Space'", in der ebenfalls die Alien-Geschichten als Deckmantel benutzt wurden, um die Aktivitäten eines außer Kontrolle geratenen militärisch-industriellen Komplexes zu verdecken, und als Aliens verkleidete Air Force-Piloten Teenager entführten. Der angebliche außerirdische Körper, der in "Gethsemane" im Yukon gefunden wurde, ist tatsächlich gefälscht; das Gussloch, von dem Kritschgau spricht ("Frozen into place over the course of a year using sentiment and materials that would bear out its age, poured through a small channel drilled in the rock above"), wurde vom Bergungsteam zu Beginn der Episode entdeckt, das es jedoch nicht zu deuten wusste. Kritschgau selber ist für die Fälschung verantwortlich. Als Grund, weswegen er jetzt auf Mulder zukommt, gibt er an, dass sein Sohn am Golfkrieg-Syndrom erkrankt ist, wofür er das Militär verantwortlich macht und deshalb dessen Lügengebäude aufdecken will.

Ein beträchtlicher Teil der X-Files Fangemeinde hat mit dem Redux-Dreiteiler, dessen Auftakt "Gethsemane" ist, ziemliche Probleme, und so geht es auch mir. Es ist schon recht unplausibel, dass man wegen einer ziemlich kleinen Minderheit, die an UFOs glaubt, einen solchen Aufwand betreibt, um all die Irreführungen zu inszenieren. Kritschgaus Version hört sich zwar auf den ersten Blick realistischer an, ist aber eigentlich nur ein riesiger Anfall von Scully-Syndrom: Es bräuchte neben einem enormen Aufwand an Geld und Ressourcen eine noch komplexere und weitreichendere Verschwörung als die, an die Mulder glaubt, um diese Irreführungen über Jahrzehnte aufrechtzuerhalten. Hinzu kommt, dass für den Zuschauer Kritschgaus Version zu diesem Zeitpunkt der Serie nicht mehr glaubhaft zu machen ist. Man hat beispielsweise die Gespräche zwischen dem Raucher und Jeremiah Smith gesehen, in denen es um die Kolonisierung geht, ebenso deckungsgleiche Versionen über die UN-Resolution 1013 und das Erschießen eines Aliens von Deep Throat und dem Raucher gehört. Anders als in "Paper Hearts", als Mulder Glauben gemacht werden sollte, Samantha sei von einem Serienkiller entführt worden, funktioniert in "Gethsemane" nicht nur die externe Logik im Hinblick auf die Zuschauer, sondern auch die interne Logik im Hinblick auf die Charaktere nicht. Selbst wenn man die genannten Beispiele außer Acht lässt, weil Mulder und Scully nicht Zeuge waren, haben die Agenten beispielsweise den außerirdischen Gestaltwandler und die Alien-Mensch-Hybriden gesehen, die m.E. durch Kritschgaus Version unmöglich zu erklären sind. Dass vor allem Mulder ihm das nicht entgegenhält, ist für mich nicht nachvollziehbar.

Womit wir bei Mulder wären. Auch Mulders Selbstmordabsichten sind nicht glaubhaft für mich. Vor allem, dass er vehement den Wahrheitsgehalt von Kritschgaus Version bestreitet (ohne ihm mit schlagkräftigen Argumenten entgegenzutreten; "after all I've seen", ohne das näher auszuführen, ist als Argument wenig zwingend), dann aber augenblicklich umfällt, als Scully ihm sagt, "he said [they] gave me this disease to make you believe." Warum glaubt er diesen Teil, wenn er alles andere, was Kritschgau sagt, in Zweifel zieht? Selbst wenn er das glaubt - wäre seine Reaktion nicht eher, diese Leute zu stellen und noch vehementer nach einem Heilmittel zu suchen, als sich umzubringen, was nun wirklich keinem etwas nützt und eigentlich auch sonst nicht seinem Charakter entspricht? Es gibt Theorien, dass die Behandlung, der er sich in "Demons" unterzogen hatte, hier noch Nachwirkungen hatte. Das wäre zumindest eine Erklärung, die sein Verhalten einigermaßen nachvollziehbar macht; vollends überzeugend finde ich sie aber auch nicht.

Etwas ärgerlich fand ich wieder einmal Scullys Familie. Vor allem ihr Bruder Bill ist ein Unsympath, wie er im Bilderbuch steht - er erinnert sich selbst alle Jubeljahre an den Geburtstag seiner Schwester, macht aber Mulder Vorwürfe, weil Scully bei ihrer Arbeit in Gefahr gekommen ist. Vollends unmöglich fand ich, dass er Scully auf ihre Verantwortung gegenüber ihrer Mutter hinweist. Eigentlich sollte es Scully sein, die hier im Vordergrund stehen sollte, und nicht die Mutter, von der ich schon in "Memento Mori" den Eindruck hatte, dass es ihr vor allem um sich selber geht. Auch die Mutter ist wieder unmöglich intervenierend; es sollte Scullys Sache sein, wem sie von ihrer Krankheit erzählt und ob sie sich einem Pfarrer zuwenden will oder nicht.

Ich will jetzt nicht allzu negativ sein; es ist nicht alles schlecht an "Gethsemane". In Sachen Ästhetik hat sich Akte X mit den Bildern im Yukon selbst übertroffen; sie sehen aus wie aus einem Kinofilm. Auch die Aufnahmen vom vermeintlichen Alien waren gut gemacht. Gillian Andersons schauspielerische Leistung war wieder einmal beeindruckend. Ignoriert man die logischen Probleme der Handlung, so ist die Episode auch durchaus spannend. Was mir auch gut gefallen hat waren die Meditationen über Glauben, Wissen und Wissenschaft. Auch wie mit der Anhörung der Bezug zum Pilotfilm hergestellt wurde, fand ich gelungen. Insgesamt aber finde ich "Gethsemane" eines der schwächsten Staffelfinale. Ich gebe knapp vier Eisproben dafür.
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