Folge 20, Staffel 4: "Ein unbedeutender Niemand / Small Potatoes"
Drehbuch: Vince Gilligan
Regie: Cliff Bole
In einem Kleinstadt-Krankenhaus in West Virginia kommen innerhalb weniger Wochen mehrere Kinder mit einem Schwanz zur Welt. Da alle Mütter bis auf eine künstlich befruchtet wurden, wird zunächst der Gynäkologe der Frauen verdächtigt. Doch dann entdeckt Mulder beim Hausmeister des Ärzte-Zentrums eine auffällige Narbe am Steißbein. Es stellt sich heraus, dass der Mann das Aussehen anderer Personen annehmen kann.
Nicht weniger als fünf Babys mit einem Schwanz am Steißbein innerhalb eines Quartals in einer Stadt mit weniger als 15.000 Einwohnern sind mehr als ungewöhnlich, aber, wie Scully richtig beobachtet, an sich kein Grund, das X-Akten-Team herbeizurufen. Mulders Interesse ist, wie sie korrekt vermutet, anders motiviert: Er hat in einem Boulevard-Blatt gelesen, dass eine der Mütter behauptet, der Vater sei aus dem Weltraum gekommen. Dies ist nicht das erste Mal, dass Mulder auf einen Boulevard-Artikel hin eine Untersuchung startet; allein in der ersten Staffel erinnere ich mich an zwei solcher Vorfälle. Der Fall an sich ist in "Small Potatoes" eher nebensächlich und ein Transportmittel für eine Episode, in der es primär um eine eher komödiantische Betrachtung von Mulder und seinen Schrullen geht.
Der Besucher aus dem Weltall, der angeblich die junge Frau schwängerte, war nach ihrer Aussage kein Außerirdischer, sondern Luke Skywalker - die junge Frau ist ein völliger Star Wars-Nerd und hat die Filme 368 mal gesehen. Der Täter, Eddie van Blundht, dargestellt von Drehbuchautor Darin Morgan, ist ein Jugendfreund von ihr - ebenfalls ein Star Wars-Fan - und hat eine ererbte genetische Anomalie, aufgrund derer er nicht nur mit einem Schwanz geboren wurde (den er chirurgisch entfernen ließ), sondern auch seine Gestalt wandeln und das Äußere von anderen Männern annehmen kann. Indem er die Gestalt von Luke Skywalker und den Ehemännern annimmt, kommt er zu fünffacher Vaterschaft.
Als Eddie schließlich Mulders Gestalt annimmt, ist das die Gelegenheit, Mulder aus einer anderen Perspektive, nämlich durch Eddies Augen, zu sehen. Er erkundet Mulders Kellerbüro und seine Wohnung (wobei wir erfahren, dass Mulder weder ein Bett noch ein Schlafzimmer hat), und hört seinen Anrufbeantworter mit Anrufen von Langley - der ihm irgendetwas im Zusammenhang mit der Verschwörungstheorie um dass Attentat auf JFK erzählt - und einer Telefonsex-Anbieterin ab. Er versucht dann, sich an Scully heranzumachen, und muss erst einmal erfahren, dass die den Freitag Abend am liebsten mit wissenschaftlichen Abhandlungen verbringt. Später taucht er dann - in Mulders Gestalt - mit einer Flasche Wein bei Scully zuhause auf, und will sich mit ihr unterhalten. "Richtig unterhalten", wie er sagt, und Scully stimmt ihm zu, dass die beiden das eigentlich nie tun. Es war nett und trug zu Scullys Charakterentwicklung bei, dass sie von ihren Highschool-Erlebnissen erzählte. Scully schien diese ihr unbekannte Seite des vermeintlichen Mulder zu mögen; vielleicht lag es am Wein, dass sie keinen Verdacht schöpfte, denn nicht nur Eddies Interesse an Scullys Highschool-Erlebnissen, sondern sein Verhalten an sich hatten nicht viel mit dem echten Mulder gemein. Es kam sogar beinahe zum - von Shippern bereits lange ersehnten - Kuss, den aber gerade noch der hereinplatzende echte Mulder vereitelte.
Darin Morgan tritt zwar in dieser Episode nur als Darsteller von Eddie van Blundht auf und nicht als Drehbuchautor, die Ähnlichkeiten von Vince Gilligans Skript mit Morgans Drehbüchern sind aber unübersehbar. Die Geschichte ist komödiantisch und nimmt vor allem Mulder aufs Korn, hat aber auch ein tiefsinnigeres Thema, das von Mulder und Scully früh in der Episode angesprochen wird: "Looking like someone else, Mulder, and being someone else are completely different things." - "Well, maybe it's not, I mean everybody else around you would treat you like you were somebody else, and ultimately maybe it's other people's reactions to us that make us who we are." Eddie sieht Mulder als jemanden, der durch freie Entscheidung ein "Loser" ist: "I was born a loser, but you're one by choice," und begründet dies mit seiner eigenen Erfahrung als "Mulder" - sein Kellerbüro, die Wohnung ohne Schlafzimmer, als Freunde hat er Geeks wie Langley und Telefonsex statt eines Liebeslebens. Eddie - der von seinem Vater gesagt bekam, die Entfernung des Schwanzes sei ein Fehler, weil er das einzige ist, was an Eddie etwas Besonderes ist - kann nicht verstehen, warum Mulder mit seinen Begabungen und seinem guten Aussehen nicht mehr aus seinem Leben macht. Eddie selbst wiederum will aus seinem langweiligen Leben als Hausmeister ausbrechen und nimmt die Gestalt aller möglicher Leute an, schafft es aber irgendwie doch nicht, dauerhaft ein Anderer zu sein und kehrt immer wieder zu seiner ursprünglichen Gestalt und seinem Job als Hausmeister zurück. Abgesehen davon, dass irgendjemand früher oder später merken würde, dass er kein langjähriger FBI-Mitarbeiter ist - wenn man schon Federal Bureau of Investigation zweimal innerhalb desselben Berichts falsch schreibt, muss das bei irgendjemandem Verdacht erregen - ist Eddie in seinem Verhalten und seiner Persönlichkeit erkennbar immer Eddie, egal, ob es in seinem Begegnungen mit Amanda oder mit Scully oder in den Häusern der betrogenen Ehemänner ist. Die Eingangsfrage wird in "Small Potatoes" klar zugunsten von Scullys Sichtweise beantwortet.
Ebenfalls Darin-Morgan-typisch sind die skurrilen und bei aller Skurrilität auch etwas tragischen Charaktere, und die bei aller Komik sich durch die Episode ziehende unterschwellige Melancholie. Neben Eddie, der sogar von seinem Vater und seiner Highschool-Liebe Amanda als "Loser" bezeichnet wird, ist da noch Amanda selbst, die 368 Mal Star Wars gesehen hat und allen Ernstes glaubt, von Luke Skywalker geschwängert worden zu sein.
Trotz seiner Taten, für die er zurecht im Gefängnis landet, ist Eddie van Blundht eines der sympathischsten Monster in Akte X. Besonders in jüngerer Zeit wurde von einigen PC-Kreuzrittern eine Menge Aufhebens um den Tatbestand gemacht, dass Eddie eigentlich ein Serienvergewaltiger ist und die Folge dies ungenügend thematisiere. Ich finde es bezeichnend, dass dies in keinem frühen Review ein Kritikpunkt war, selbst von erklärten Feministinnen nicht. Man könnte auch mal die Kirche im Dorf lassen. Es ist eine surreale Komödie, und Eddie wird nun wirklich nicht zum Helden stilisiert, sondern landet im Gefängnis. Es ist m.E. in einer solchen Folge nicht nötig, zusätzlich noch einen Vortrag zu halten, wie verwerflich eine Vergewaltigung ist.
"Small Potatoes" ist eine sehr unterhaltsame Episode mit vielen witzigen Szenen, darunter Eddies Erkundung von Mulders Büro und Wohnung, Eddie und Scully in Skinners Büro, der "Mulder" für seine Tippfehler tadelt, oder Scully, die sich in der Autopsie über die intakte Leiche von van Blundht Senior freut, während Mulder tollpatschigerweise den Schwanz abbricht. Sie lebt vor allem von den schauspielerischen Leistungen David Duchovnys, dem es sichtlich Spaß macht, einen völlig anderen Charakter in Mulders Haut zu spielen und dessen komödiantisches Talent hier voll zur Entfaltung kommt. Auch Morgan als Eddie hat mir gut gefallen. Ein paar kleine Logikfehler hat die Episode auch; die als Begründung für die Verwandlungsfähigkeit angeführte Muskelschicht unter der Haut kann eigentlich nicht dazu führen, dass sich Haar- und Augenfarbe, die Körpergröße und auch die Stimme verändern. Letztlich glaube ich, auch das sollte man in dieser Episode nicht so ernst nehmen. Ich gebe fünf abgebrochene Schwänze dafür.