Akte X - Staffel 4




Alles zu Chris Carters Mystery-Serien Akte X, MillenniuM und The Lone Gunmen

Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Mo 11. Mär 2019, 20:15

Folge 10, Staffel 4: "Die Sammlung / Paper Hearts"

Drehbuch: Vince Gilligan
Regie: Rob Bowman



Aufgrund eines Traums findet Mulder die Leiche eines Mädchens, das auf dieselbe Weise ermordet wurde wie dreizehn andere Opfer eines Serienkillers, den er vor Jahren überführt hat. Mit Scully macht er sich auf die Suche nach weiteren Opfern. Als er den Täter befragt, deutet der an, dass auch Samantha eines der Opfer sein könnte, und scheint viel zu viel über die Umstände ihres Verschwindens zu wissen.

"Paper Hearts" ist eigentlich eine Stand-Alone-Episode, hängt aber stark mit der Mythologie der Serie zusammen, da das Verschwinden von Samantha Mulder der treibende Faktor sowohl der Mythologie als auch dieser Einzel-Episode ist. Als echte Mythologie-Episode kann man "Paper Hearts" dennoch nicht bezeichnen, da sie die Rahmenhandlung nicht voranbringt, sondern sich auf die Auswirkungen von Samanthas Verschwinden auf Mulder konzentriert.

Mulder, dessen Rolle hier wieder an seine ursprüngliche Tätigkeit als Profiler anknüpft, wird vor die - für ihn gradezu existenzielle - Frage gestellt, was wäre, wenn er mit seiner Annahme, Samantha sei von Außerirdischen entführt worden, vollständig auf dem Holzweg ist, und Samantha in Wahrheit das Opfer eines Serienmörders geworden ist. Die einzigen paranormalen Elemente der Episode sind Mulders visionäre Träume und seine Verbindung zu John Lee Roche, die diesem irgendwie Einblicke verschafft, was mit Mulders Schwester geschehen ist und ihn buchstäblich in Mulders Kopf eindringen lässt. (Scullys alternative Erklärung, dass Roche die Informationen über Samanthas Fall im Internet zusammengesucht hat, erklärt nicht die Vielzahl an Details, die Roche weiß, bis hin zu dem Brettspiel, das die Kinder spielten, auch wenn sie natürlich ansonsten recht hat, dass Roche Mulder manipuliert.) Zweifel, ob Samantha tatsächlich von Außerirdischen entführt wurde, hatte Mulder schon früher - so Anfang von Staffel 2 in "Little Green Men". In "Paper Hearts" bekommt er nun erstmals ein klares Alternativszenario präsentiert - nämlich dass Samantha ein Opfer von Roche geworden ist. Sein Traum, in dem Roche Samantha entführt, und die vielen Details, die Roche über die Nacht der Entführung zu wissen scheint, bringen Mulders Zweifel mit bisher nicht dagewesener Vehemenz zurück. Er beginnt sich zu fragen, ob er die ganze Zeit vor einer Wahrheit davon gelaufen ist, die noch schrecklicher als eine Entführung durch Außerirdische ist.

An dieser Stelle sollte vielleicht auf einige Einwände eingegangen werden, die mir bei der Recherche zu dieser Episode wiederholt begegneten - nämlich, dass zu diesem Zeitpunkt in der Serie die Möglichkeit, dass Samantha von Roche getötet wurde, dem Zuschauer nicht mehr zu vermitteln sei. Ich glaube, dass "Paper Hearts" gar nicht versucht, dem Zuschauer dies ernsthaft zu vermitteln. Die Episode stellt nämlich zu keinem Zeitpunkt irgendeinen Bezug zu den zentralen Geschehnissen in den Mythologie-Mehrteilern her, um zu versuchen, diese Ereignisse irgendwie in Zweifel zu ziehen. Roche redet nicht von den Klonen in "Colony" oder in "Herrenvolk" auf der Bienenfarm oder von dem Archiv in der Strughold-Mine mit Samanthas Akte. Mulders Konfusion entsteht durch die ganz persönlichen Dinge, die Roche weiß - der Typ des Staubsaugers, den er Mulders Mutter verkauft hat, die Szenerie im Wohnzimmer der Mulders am Abend der Entführung. Der Zuschauer soll nicht zweifeln, ob Samantha von Außerirdischen entführt wurde - Mulder soll zweifeln. Nach all den Täuschungen durch das Syndikat, das ihn schon vorher, bspw. in "E.B.E.", mit viel Aufwand auf Irrwege geführt hat, soll er die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass er wieder einer Täuschung aufgesessen ist.

Ein anderer Punkt, der kritisiert wurde, ist Mulders Leichtsinn, in dem er mit Roche allein loszieht. Derartige Aussetzer hatte Mulder aber auch schon früher, und besonders dann, wenn es um Samantha ging. Dass er seine FBI-Ausbildung nicht gänzlich vergessen hat, zeigt der Trick, mit dem er Roche ins falsche Haus führt - was dieser nicht merkt, so dass zu diesem Zeitpunkt für den Zuschauer endgültig klar ist, dass Roches Geschichte erfunden ist. Diesmal unterschätzt Mulder jedoch völlig die Auswirkungen der ganzen Geschichte auf ihn, was spätestens klar wird, als er Roche irgendwie im Schlaf befreit und so durch seinen Leichtsinn ein Mädchen in tödliche Gefahr gerät.

Roche, den Profiler Mulder nicht nur korrekterweise als Handelsvertreter identifizierte, sondern auch als "jemand Gewöhnlichen" beschrieb, scheint ähnlich wie Drehbuchautor Vince Gilligans Robert Modell aka Der Pusher eine Art Mythologie um sich selbst errichten zu wollen. Er zitiert ständig "Alice im Wunderland", scheint sich selbst als den verrückten Hutmacher zu betrachten und antwortet auf die Frage, warum er über die Zahl seiner Opfer gelogen hat, dass die Dreizehn "magischer" klinge. Dass er aus den Schlafanzügen Herzen herausschneidet, scheint zu symbolisieren, was er den Familien der Opfer weggenommen hat. Ähnlich wie Eugene Victor Tooms oder Donnie Pfaster ist er ein Allerweltsgesicht, hat aber anders als diese eine aalglatte Art an sich, das Stereotyp eines Staubsaugerverkäufers. Es macht ihm sichtlich Spaß, Mulder dazu zu bringen, alles und jedes von seinen Entscheidungen in der Untersuchung bis zur Entführung seiner Schwester in Frage zu stellen.

Das Zusammenspiel zwischen Roche und Mulder ist eine Art Gegenstück zu dem von Luther Boggs und Scully in "One Breath" in der ersten Staffel, als Boggs Scully auf ähnliche Weise manipulierte, indem er ihre Verletzbarkeit durch den kürzlichen Tod ihres Vaters ausnutzte. Auch Boggs brachte mit seinen tatsächlichen oder vermeintlichen hellsichtigen Fähigkeiten Scully dazu, alles in Frage zu stellen, woran sie bisher geglaubt hatte. Und während in "One Breath" Mulder die Rolle des Skeptikers annahm, ist es hier Scully, die Roche nicht glaubt und Mulder warnt, dass mit ihm Spielchen gespielt werden. Beim Vergleich beider Episoden zeigt sich (was sich schon in anderen Episoden andeutete), dass Scully die stabilere der beiden Persönlichkeiten ist. Während Scully in "One Breath" aufgrund Mulders Aufenthalt im Krankenhaus mit der Situation alleine fertigwerden musste und auch damit fertig wurde, hat Mulder hier jegliche Unterstützung, sowohl von Scully als auch von Skinner, ist aber dennoch derart von der Rolle, dass er eigentlich unverzeihliche Fehler begeht. Er schlägt einen Gefangenen, er nimmt ihn allein mit auf eine Freigangstour, zu allem Überfluss lässt er ihn auch noch mit seinen Papieren und seiner Waffe entkommen. Es ist eigentlich unglaublich, dass er nicht seinen Job verliert. Scully unterstützt ihn, wo sie nur kann - sie legt sich beim Verhör mit Roche an, sie verteidigt ihn gegenüber Skinner, sie hilft ihm, eine weitere Leiche auszugraben. Sie macht ihm am Ende klar, dass das sechzehnte Opfer nicht Samantha sein kann, und versucht, ihm den Glauben an sich selbst wiederzufinden, als er nicht mehr daran glaubt, das sechzehnte Opfer zu finden. Zu diesem Zeitpunkt der Serie hätte Mulder vermutlich zumindest seine Stelle verloren, wenn nicht noch Schlimmeres erlitten, wenn Scully nicht wäre.

"Paper Hearts" ist Vince Gilligans vierter Skript für die X-Akten und nach "Unruhe" der zweite, der mir richtig gut gefällt. Er greift hier die zentrale Triebfeder der Mythologie der Show auf und zeigt, was in den echten Mythologieepisoden oft zu kurz kommt - was die Auswirkung all dessen auf die Charaktere ist. Besonders die Traumszene, als Mulder auf dem Parkplatz seine soeben gerettete Schwester in die Arme schließt, bleibt hängen - so befreit hat man Mulder in der Serie bisher nicht gesehen.

Was die schauspielerischen Leistungen angeht, ist Tom Noonan hervorzuheben, der John Lee Roche zu einem großartigen menschlichen Monster macht. Roches seidenglatte Bosheit, seine perverse Freude über die Morde an den Mädchen und seine Manipulation Mulders sind ebenso wie sein Zurückkriechen angesichts Mulders Rage am Ende im Bus hervorragend dargestellt. Auch David Duchovny hat hier wieder einmal eine seiner Sternstunden. Ob es der getriebene Ausdruck auf seinem Gesicht ist, als er die Leiche ausgräbt, seine Hilflosigkeit und sein Schmerz, als er Scullys Hilfe sucht ("it's not her, is it?"), seine Erleichterung bei der Befreiung Samanthas in der Traumszene, oder eine der vielen anderen Szenen, in denen Mulder alles zwischen Verletztheit, Verzweiflung, Wut und Erleichterung durchlebt - Duchovny hätte für diese Episode einen Emmy verdient gehabt. Auch Gillian Anderson als die Mulder in allen Situationen unterstützende und Roche attackierende Scully hat mir gut gefallen.

Sehr gut gefallen hat mir auch die Inszenierung, in der düstere Szenen mit einer ungewohnten Verspieltheit besonders in den Traumsequenzen abwechseln. Die Verwendung des roten Laser-Pointers, die verwaschenen Farben in den Traumszenen, und Mark Snows Musik, besonders die Piano-Sequenzen, tragen viel zum Gelingen der Episode bei. Der finstere Charakter von Roche und die Unschuld der Opfer werden hier auch bildlich und musikalisch kontrastiert. "Paper Hearts" steht für mich als Charakterstudie in einer Reihe mit wirklich großen Stand-Alone-Episoden wie "Irresistible", "Grotesque", "Oubliette" etc. Ich gebe sechs Stoffherzen dafür.
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Do 14. Mär 2019, 11:16

Folge 11, Staffel 4: "Der Chupacabra / El Mundo Gira"

Drehbuch: John Shiban
Regie: Tucker Gates



In einer Gemeinde illegaler mexikanischer Einwanderer streiten sich zwei Brüder um die Liebe einer jungen Frau. Kurz danach fällt gelber Regen und die Frau wird tot aufgefunden, neben ihr liegt eine tote Ziege. Die Mexikaner beschuldigen ein Monster, den Chupacabra, die Polizei geht von einem Eifersuchtsmord aus, Scully jedoch findet bei der Autopsie eine mysteriöse Pilzinfektion, die die Leiche zersetzt.

Der Chupacabra ist ein der Kryptozoologie zuzurechnendes Geschöpf, das angeblich erstmals in den späten 1980er Jahren in Puerto Rico gesichtet wurde und über das Mitte der 1990er in den Medien berichtet wurde. Der Name bedeutet "Ziegensauger", da es angeblich Ziegen und Schafe ähnlich wie ein Vampir überfällt und ihnen das Blut aussaugt. Über sein Aussehen gibt es unterschiedliche Beschreibungen, darunter solche, die der auch in Akte X zu sehenden eines Außerirdischen mit großem Kopf und großen Augen, ohne Ohren oder Nase, gleichen. Ein solches Bild ist in "El Mundo Gira" als Grafitti an einer Wand mit dem Schriftzug "EL CHUPACABRA VIVE!" zu sehen, außerdem scheint sich Eladio in etwas mit einem derartigen Aussehen zu verwandeln.

Der Episodentitel "El Mundo Gira" ist Spanisch und bedeutet "Die Welt dreht sich"; er bezieht sich auf eine sehr langlebige amerikanische Seifenoper namens "As the World Turns", der "Lindenstraße" vergleichbar, die in den USA zwischen 1956 und 2010 lief. Der Zusammenhang bezieht sich wohl darauf, dass Scully den Fall eine "mexikanische Seifenoper" nennt.

"El Mundo Gira" wirkt auf mich wie eine verunglückte Kreuzung zwischen "Teso Dos Bichos", der ebenfalls von John Shiban stammenden Geschichte über die gestörte Grabesruhe einer ecuadorianischen Schamanin, die in einem Angriff mörderischer Hauskatzen endete, und "Teliko", die zwar von einem anderen Autor stammt, aber ebenfalls an der Gratwanderung scheitert, Gesellschaftskritik an der Diskriminierung von Minderheiten mit einer Geschichte über Einwanderer als Krankheitsträger zu verbinden. Wie in "Teliko" kommt es in "El Mundo Gira" Mulder zu, diese Gesellschaftskritik zu artikulieren: "Nobody cares, Scully. The victim and many of the witnesses are illegal immigrants." Wie in "Teliko" scheitert der Versuch daran, dass jegliches Klischee über mexikanische Einwanderer bedient wird und überdies die Episode mit den den tödlichen Pilz übertragenden Brüdern Eladio und Soledad zu einer Geschichte über Einwanderer, die ansteckende und in diesem Fall besonders scheussliche Krankheiten in die USA einschleppen, wird.

Ansonsten weist "El Mundo Gira" zahlreiche Ähnlichkeiten mit der ebenfalls verunglückten Shiban-Episode "Teso Dos Bichos" auf. Es werden alle möglichen Horrorelemente durcheinander gemixt, angefangen von ausgesaugten Ziegen, gruseligen Pilzen, mörderischen eifersüchtigen Brüdern und schließlich wird auch noch eine Beziehung zu Außerirdischen hergestellt. Die Mexikaner sind nicht in der Lage, ihre Eifersuchtsimpulse auf zivilisierte Weise zu kontrollieren, und reden sich statt dessen ein, ein Fabelwesen habe Maria getötet.

Wie "Teso Dos Bichos" ist die Handlung ein Wirrwarr ohnegleichen. Sowohl den Bezug zu Außerirdischen als auch zur amerikanischen Seifenoper-Serie finde ich, gelinde gesagt, konstruiert. "To most people they are aliens in the true sense of the word." Ja, sind sie. Ansonsten haben sie aber mit den übermächtigen Außerirdischen in der Serie überhaupt nichts gemein; auch dass der Chupacabra einem Grauen ähnelt und Eladios Äußeres sich durch angeblich außerirdischen gelben Regen in etwas Ähnliches transformiert, sind bestenfalls leere Metaphern - ein Gimmick ohne Inhalt. Wie auch der Mythos des Chupacabra in der Episode letztlich ohne Bedeutung ist. Was der Regen mit dem Enzym ist, wo er herkommt und wodurch er verursacht wird, erfährt man nie. Unverständlich ist mir auch, weswegen Eladio Buente, der unbedingt nach Mexiko zurück will, vor den Immigrationsbehörden flieht, die ihn genau dahin bringen wollen. Oder wieso beim Anblick dieser beiden sehr sonderbar aussehenden Typen, die da versuchen zu trampen, niemand die Polizei anruft.

Am Ende hört man drei verschiedene Berichte über das, was passiert ist; Flakitas, die glaubt, Eladio sei tot und ein eingeflogenes Seuchenkontroll-Team für weitere vom Himmel herabsteigende Chupacabras hält; Gabriellas, die glaubt, Eladio sei noch am Leben und Gott habe Eladios Bruder zur Strafe in einen Chupacabra verwandelt, und Mulders und Scullys Version, die das Eintreffen des Seuchenkontroll-Teams bestätigen, und nicht erklären können, wo die beiden Brüder sind. Ich weiß nicht, ob das die Erzähltechnik von "José Chung's 'From Outer Space'" nachahmen soll, aber hilft der Episode nicht viel. Der Einstieg ist noch recht interessant, die Effekte im Zusammenhang mit der Pilzinfektion sind gut gemacht, aber die Geschichte ist einfach zu wirr, die Darstellung der Mexikaner und des fremdenfeindlichen Beamten ist zu stereotyp, der Zusammenhang mit Außerirdischen ist zu konstruiert, und die Auflösung zu uninteressant. Überdies sind Mulder und Scully völlig nutzlos und laufen den Ereignissen nur hinterher. Unter dem Strich ist "El Mundo Gira" vielleicht die schwächste Folge der vierten Staffel. Ich gebe zwei Packungen Fungizid dafür.
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » So 17. Mär 2019, 16:48

Folge 12, Staffel 4: "Leonard Betts / Leonard Betts"

Drehbuch: Vince Gilligan, John Shiban & Frank Spotnitz
Regie: Kim Manners



Bei einer Rettungsfahrt kommt ein Sanitäter zu Tode, indem ihm der Kopf abgetrennt wird. Kurz darauf verschwindet die kopflose Leiche aus dem Autopsieraum, während der Kopf bei der Autopsie ungewöhnlich starke Post-Mortem-Reaktionen zeigt. Mulder glaubt, dass der Verstorbene die Fähigkeit hat, abgetrennte Körperteile nachwachsen zu lassen.

"Leonard Betts" ist die Akte X-Episode mit den höchsten Einschaltquoten überhaupt, was sie dem Umstand zu verdanken hat, dass sie direkt im Anschluss an die Super Bowl ausgestrahlt wurde. Um dies zu ermöglichen, wurden in der Ausstrahlungsreihenfolge "Leonard Betts" und "Never Again" vertauscht, da man glaubte, dass "Leonard Betts" geeigneter wäre, die X-Akten einem neuen Publikum vorzustellen. Tatsächlich ist "Leonard Betts" m.M.n. für diesen Zweck hervorragend geeignet. Es ist eine Stand-Alone-Episode, die kein Vorwissen erfordert, mit einem höchst bizarren Fall, einem interessanten Monster, einem ordentlichen Schuss makabrem Humor und vielen guten Mulder-und-Scully-Momenten.

Der Fall an sich ist einer der bizarrsten in der ganzen Serie, weil so viele Anomalitäten miteinander verknüpft sind. Zunächst findet man heraus, dass Leonard Betts anscheinend irgendwie ohne seinen Kopf unterwegs ist (was nur Mulder nicht völlig abwegig findet), dann kann der abgetrennte Kopf zu Scullys Entsetzen die Augen und den Mund öffnen. In Betts Wohnung ist sonderbarerweise eine ganze Badewanne mit Jod gefüllt; es stellt sich heraus, dass er irgendwie Gliedmaßen und sogar seinen ganzen Kopf nachwachsen lassen kann. Schließlich erfährt man auch noch, dass er nicht nur aus Krebszellen besteht, sondern auch Krebszellen benötigt, um zu überleben. Das Bündel an Merkwürdigkeiten würde für mehrere Episoden reichen. Gleichzeitig gibt es viele Momente makabren Humors und witziger Dialogzeilen, bspw. als Scully Mulder fragt, warum sie in diesem Fall ermitteln, oder ihre Reaktion, als Mulder sie fragt, ob sie sagen wolle, der Kopf sei am Leben, oder auch als sie eine Schwarzmarkt-Verschwörung für das Verschwinden der Leiche verantwortlich macht. Auch den sich etwas zimperlich anstellenden Mulder, als es darum ging, den Container mit medizinischen Abfällen zu durchsuchen, während Scully energisch drauflos wühlte, fand ich amüsant.

Hinzu kommt, dass Leonard Betts ein sehr interessantes Monster ist. Betts will ähnlich wie Eugene Victor Tooms und Virgil Incanto nur überleben, hat aber im Unterschied zu diesen vor seinem Unfall eine Möglichkeit gefunden, das zu bewerkstelligen, ohne zu morden. Als Ambulanzfahrer half er vielen Menschen, er stellte frühzeitige Krebsdiagnosen und ernährte sich von medizinischen Abfällen. Letzteres ist zwar vermutlich gegen alle möglichen Vorschriften, aber es kommt niemand dabei zu Schaden, und es ermöglicht ihm, seine Anomalitäten lange Zeit zu verbergen. Selbst als er den Unfall erleidet, und dann zu töten beginnt, scheint er ehrlich zu bedauern, dass seine Opfer sterben müssen. "I'm sorry, but you've got something I need." Seine Mutter ist die Einzige, die sein Geheimnis kennt, und egal was passiert, immer zu ihm steht. (Das merkwürdige Verhältnis von Betts zu seiner Mutter erinnert etwas an die Peacock-Familie, spätestens dann, als sich Betts vom Brustkrebs seiner Mutter ernährt - eine groteske Parodie des Stillens eines Babys. "I'm your mother, and it's a mother's duty to provide.") In gewissem Sinn ist Betts über lange Strecken der Episode ein recht sympathisches, auf jeden Fall aber komplexes Monster, dessen Niedergang zum Ende der Episode, als er nur noch ein Getriebener ist, etwas Tragisches hat.

Bis ca. 5 Minuten vor Schluss ist "Leonard Betts" vor allem eine sehr gute Stand Alone-Episode, die auch für neue Zuschauer gut zugänglich ist. Die Krönung setzt der Episode allerdings die Enthüllung in den letzten Minuten auf, dass Scully an Krebs erkrankt ist. Hierdurch wird der Bogen zur Mythologie der Serie geschlagen, genauer gesagt zu der seit dem "Nisei"-Zweiteiler in Staffel 3 im Hintergrund lauernden Möglichkeit, dass Scully ebenso wie die anderen entführten Frauen des MUFON-Netzwerks an Krebs erkranken könnte. "Leonard Betts" wird dadurch zum Ausgang von Scullys vielleicht bedeutsamsten persönlichen Charakter-Bogen und zu einer der wichtigsten Episoden nicht nur der vierten Staffel, sondern der gesamten Serie. Prinzipiell musste man damit rechnen, dass diese Nachricht irgendwann kommt; da der Handlungsfaden aber schon eine ganze Staffel vorher begonnen wurde und "Leonard Betts" eine bis dahin "unverdächtige" Stand Alone-Episode ist, kommt sie für den Zuschauer dennoch wie ein Schock aus heiterem Himmel. Die Wirkung wird noch verstärkt dadurch, dass die Diagnose nicht direkt ausgesprochen wird, aber aufgrund der Ereignisse in der Episode dennoch für jeden klar ist, was gemeint ist, als Betts Scully angreift mit den Worten "You've got something I need." Als Scully dann in der folgenden Nacht mit Nasenbluten aufwacht, dient das nur noch der Bestätigung.

Mit der Enthüllung von Scullys Erkrankung ist "Leonard Betts" nicht nur eine gute Einführung für Erstzuschauer, sondern auch noch eine sehr spezielle Folge für Zuschauer, die die Serie schon länger verfolgen. Man hätte für den Super Bowl-Abend kaum eine bessere Episode finden können. Abgesehen von der Handlung sind auch die Effekte wieder sehr gut gemacht, es gibt denkwürdige Szenen wie die Präparation von Betts abgeschlagenem Kopf, die Durchsuchung des Containers mit medizinischen Abfällen, die Regeneration in der Badewanne voll Jod, oder die Szene, als Betts Kopf auf dem Autopsietisch zum Leben zu erwachen scheint. Auch die in kühlen, dunklen Farben gehaltene Inszenierung und die für die ersten Staffeln charakteristische Vancouver-Atmosphäre lassen "Leonard Betts" als eine exemplarische Akte X-Folge erscheinen. Zwar ist der Fall selbst für Akte X-Verhältnisse äußerst bizarr und Anne Simon schreibt in ihrem "Science"-Buch, über die selbst theoretische Lebensfähigkeit eines solchen Monsters solle man besser nicht nachfragen. Damit kann man aber m.E. in einer Mystery-Serie leben. Ich vergebe fünf Kirlian-Fotografien für "Leonard Betts".
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Di 19. Mär 2019, 20:15

Folge 13, Staffel 4: "Mutterkorn / Never Again"

Drehbuch: Glen Morgan & James Wong
Regie: Rob Bowman



Ein Mann lässt sich nach seiner Scheidung ein Tattoo der Comic Figur "Betty Blue" und den Schriftzug "Never Again" auf den Oberarm stechen. Die Tätowierung scheint schon bald ein Eigenleben zu entwickeln und stachelt ihn gegenüber anderen Frauen auf, bis hin zum Mord an seiner Zimmernachbarin. Scully wird, während Mulder in Urlaub ist, eher zufällig in den Fall verwickelt, als sie dem Mann erst im Tattoo-Studio begegnet und sich später mit ihm verabredet.

"Never Again" ist wohl eine der polarisierendsten Akte X-Folgen überhaupt, und sorgte nach meinen Recherchen auch hinter den Kulissen für so einige Reibereien. Hintergrund ist, dass diese Folge ursprünglich vor "Leonard Betts" ausgestrahlt werden sollte und auch vor dieser geschrieben und produziert wurde - noch bevor entschieden war, dass Scully in "Leonard Betts" mit einer Krebserkrankung diagnostiziert werden sollte. Durch das Vorziehen von "Leonard Betts" auf den Super Bowl-Abend kam es zum Tausch der Episoden. Zudem sollte die Folge auf Wunsch von Anderson und den Drehbuchautoren eine unmissverständliche Sexszene zwischen Scully und Ed Jerse enthalten, die geschnitten wurde. Vor allem Glen Morgan regte sich wohl ziemlich über die vertauschte Reihenfolge und die geschnittene Sexszene auf, und meinte, dadurch würde sich Scullys gesamte Motivation grundlegend verändern.

Ich zähle zu dem Lager derer, die über die Veränderungen froh sind. Morgan & Wong tendieren dazu, das Verhältnis von Mulder und Scully als negativ, um nicht zu sagen toxisch, vor allem für Scully zu bewerten, und rücken Mulders negative Charaktereigenschaften meist stark in den Vordergrund. Dass Mulder oft von seiner Suche nach der "Wahrheit" so besessen ist, dass er Scullys Bedürfnisse gar nicht wahrnimmt, er ihre Anwesenheit und praktisch ständige Verfügbarkeit als selbstverständlich annimmt, will ich gar nicht bestreiten. Dennoch schießen Morgan & Wong m.E. über's Ziel hinaus, wenn sie die Situation für Scully nur negativ beschreiben und sie vor allem hauptsächlich Mulder in die Schuhe schieben. Es ist immer noch Scullys Entscheidung, sich auf diese Weise in Bereitschaftsdienst zu halten, sie hat sich bereits in Staffel 1 mehrfach aktiv dafür entschieden, mit Mulder zusammenzusein statt mit ihren alten Freunden oder mit diesem Steuerberater in "The Jersey Devil". Und bei allem verständlichen Ärger über Mulders gelegentliche Egozentrik bedeutet ihr Job für sie auch, dass sie eine sehr interessante Arbeit hat und ihren wissenschaftlichen Interessen nachgehen kann.

Insofern wirkt, sofern man annimmt, dass Scully noch nichts von ihrer Krebserkrankung weiß, ihr Verhalten in dieser Episode auf mich etwas undankbar und sehr zickig und weinerlich. Beispielsweise verstehe ich nicht, warum sie Mulder anzickt wegen des fehlenden Schreibtisches. Wäre es nicht Blevins Aufgabe gewesen, ihr einen Schreibtisch herunterzustellen, und wäre nicht Skinner hier der richtige Ansprechpartner? Seit wann sind Kollegen für das Büromobiliar zuständig? Das passt auch überhaupt nicht damit zusammen, dass sie sagt, Mulder klinge, als sei er "ihr Vorgesetzter". Wenn ich mich recht erinnere, hieß es, sie solle Mulder "assistieren". Also entweder ist er tatsächlich zumindest ein höher eingestufter Kollege - dann hätte die Beschwerde mit dem Schreibtisch vielleicht noch eine gewisse Berechtigung - oder aber sie sind gleichberechtigt, dann ist sie wegen des Schreibtischs definitiv bei Mulder an der falschen Adresse. Auch die passiv-aggressive Art, mit der sie mehrfach sagt, "this isn't about you", dann aber nicht herausrückt, worum es eigentlich geht, stört mich ziemlich. Das passt für mich nicht zu der Scully, wie ich sie seither wahrgenommen habe. Die Scully, die ich bisher kennengelernt habe, wäre nicht nur imstande, bei Skinner einen Schreibtisch anzufordern, sondern würde sich auch anders mit einer unbefriedigenden Situation in ihrer Arbeitsbeziehung auseinandersetzen. Wenn irgendwelche feministischen Überlegungen hier eine Rolle gespielt haben sollten, ging das gründlich nach hinten los, denn selbstständige Frauen warten nicht, bis ihr Kollege aktiv wird, wenn sie einen Schreibtisch wollen.

Dasselbe gilt für die geschnittene Sexszene. Anscheinend waren Anderson und Morgan der Meinung, so wie Scully dargestellt sei, sei das "nicht menschlich" und wollten sie "menschlicher" machen, indem sie sie einen One Night Stand mit diesem Ed Jerse erleben lassen. Auch das finde ich ziemlich verquer. Scully fand es noch in "Gender Bender" völlig unverständlich, wie im Zeitalter der größten AIDS-Angst Leute Sex mit einem Wildfremden haben können, und als sie wegen der Pheromone dieses Außerirdischen in eine solche Situation hineinrutschte, schämte sie sich hinterher sehr. Dieselbe Scully soll nun aus schierem Frust über ihre Arbeitsbeziehung mit Mulder mit Ed Jerse ins Bett springen? Das erscheint mir doch ziemlich out ouf Charakter.

Das alles ergibt für mich allenfalls dann einen Sinn, wenn man unterstellt, dass Scully wegen der Krebsdiagnose in einer emotionalen Ausnahmesituation ist - wie es die ungeplante Vertauschung der Sendereihenfolge bewirkte. Weswegen ich sehr froh bin, dass Carter das durchsetzte und auch die Sexszene schneiden ließ. Ohne diese, ich nenne es mal Korrekturen, würde "Never Again" das Verhältnis zwischen Mulder und Scully in einem derart negativen Licht darstellen, dass es mit den meisten anderen Mulder-und-Scully-Momenten in der Serie kaum vereinbar ist.

Andererseits ist es mit dem Hintergrundwissen, dass das alles völlig anders geplant war, recht schwierig, über diese Folge zu schreiben oder sie zu interpretieren. Blendet man das Hintergrundwissen aus, so hat "Never Again" einige schöne Szenen. So beginnt die Episode mit einer geistesabwesenden Scully, die ein verwelkendes Rosenblatt aufhebt - ein Symbol für ihr durch die Krebserkrankung entgleitendes Leben. Es ist völlig nachvollziehbar, dass sie sich nicht so verhält wie sonst und alles in Frage stellt - ebenso wie es nachvollziebar ist, dass für Mulder, der nichts von der Diagnose weiß, ihr Verhalten vollkommen unverständlich ist.

Nichtsdestotrotz macht "Never Again" einige Beobachtungen über Scully, die auch ungeachtet ihrer Krebsdiagnose relevant sind. Die wichtigste bezieht sich auf ihre Tendenz, sich zu Autoritäts- bzw. Vaterfiguren hingezogen zu fühlen, was sie selber auch in der Bar gegenüber Jerse thematisiert. Scully, wie "Beyond the Sea" in der ersten Staffel zeigte, war immer davon angetrieben, es ihrem Vater recht zu machen, und diese Frage war die eine, die sie in ihrer Interaktion mit Luther Boggs motivierte. Ihre zwei Liebhaber, die die Serie thematisiert, waren ein Lehrer an der FBI-Akademie und ein Professor - beides nicht nur deutlich ältere Männer, sondern ihre Lehrer, also Männer, deren Job es war, ihr etwas beizubringen. Mulder vergleicht sie in "Quagmire" mit Captain Ahab aus Moby Dick, und auch ihren Vater nannte sie "Ahab" - sie stellt also irgendwie auch eine Beziehung zwischen Mulder und ihrem Vater her. Ihr Tattoo - "everyone gets the tatoo they deserve" - ist ein Ouroboros, eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Dies ist normalerweise ein Symbol für Unendlichkeit, Zyklizität und Vollkommenheit. Hier soll es möglicherweise symbolisieren, dass Scully in einem Zirkel gefangen ist, was der eigentlichen Bedeutung des Ouroboros jedoch nicht gerecht würde.

Diese Beziehung zu Ed Jerse ist natürlich von vornherein zum Scheitern verurteilt. Jerse kommt frisch aus einer gescheiterten Ehe, hat den Sorgerechtsstreit verloren, sich im Job mit Kolleginnen und weiblichen Vorgesetzten angelegt und eben, aufgestachelt von seinem Tattoo, eine Nachbarin umgebracht. Das Tattoo, die eifersüchtige Comic-Figur (im Original gesprochen von Jodie Foster), bringt seine Frustration und seine Wut auf Frauen an die Oberfläche, eine denkbar schlechte Ausgangsbasis, eine Beziehung mit einer neuen Frau anzufangen. Welche Rolle das Mutterkorn tatsächlich spielt, ist am Ende nicht ganz klar; die Episode suggeriert, dass die Droge, wenn überhaupt, in viel zu geringen Mengen im Blut von Jerse vorhanden war, um eine Psychose auszulösen, somit allenfalls ein Verstärker war.

Was die Umsetzung angeht, finde ich "Never again" sehr gut gelungen. Sie ist schön inszeniert, die schauspielerische Leistung insbesondere von Anderson ist ansprechend, und der Gastauftritt von Jodie Foster als Sprecherin des Tattoos ist wunderbar gruselig. Mit der Darstellung von Scully tue ich mich wie gesagt schwer und lediglich die - ungeplante - Hintergrundgeschichte mit der Krebsdiagnose hält mich davon ab, "Never Again" als völlig verunglückte Charakterfolge zu bewerten. Wenn ich das ausblende - was zählt, ist nunmal, was veröffentlicht wurde - gebe ich vier eifersüchtige Tattoos dafür.
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Fr 22. Mär 2019, 20:01

Folge 14, Staffel 4: "Memento Mori / Memento Mori"

Drehbuch: Chris Carter, Frank Spotnitz, John Shiban & Vince Gilligan
Regie: Rob Bowman



Scully lässt sich im Krankenhaus untersuchen und es wird in ihrem Kopf ein inoperabler Tumor diagnostiziert. Als Mulder und Scully die MUFON-Frauen besuchen wollen, die sich wie Scully ein Implantat entfernen ließen, erfahren sie, dass alle bis auf eine an derselben Krebsart gestorben sind. Scully besucht die verbleibende Patientin im Krankenhaus und begibt sich selbst in Behandlung. Mulder macht sich auf die Suche nach Antworten, was die Ursache der Erkrankung betrifft, und trifft auf eine Gruppe von Klonen, die ihre Mütter retten wollen, während Skinner einen Pakt mit dem Raucher eingeht.

"Memento Mori", Lateinisch in etwa "vergiss nicht, dass du sterblich bist", ist eine der seltenen charakterintensiven Mythologiefolgen. Nach einer relativ kurzen Einführung, in der Mulder und Scully gemeinsam agieren, spaltet sie sich in zwei Handlungsstränge auf: Scully muss im Krankenhaus mit ihrer Krebsdiagnose fertig werden und begleitet die sterbende Penny Northern; dieser Teil dient v.a. der Charakterentwicklung Scullys. Die Handlung um Mulders Suche nach Antworten hingegen bringt die Mythologie voran, man erfährt mehr über die Entführungen, denen auch Scully in "Ascension" in der zweiten Staffel zum Opfer fiel. Beide Handlungsstränge von "Memento Mori" knüpfen direkt an den "Nisei"-Zweiteiler aus Staffel 3 an. Dort lernte Scully die MUFON-Gruppe kennen, eine Gruppe von Frauen, die nach eigener Aussage von Außerirdischen entführt worden waren und sich dieselben Implantate aus dem Nacken entnehmen ließen, wie auch Scully eines entfernen ließ. Eine der Frauen, Betsy Hagopian, lag damals schon mit einer Krebserkrankung im Sterben und die MUFON-Gruppe war der Meinung, dass ihnen allen dasselbe Schicksal bevorstehen würde. Etwa ein Jahr später sind nun alle bis auf eine tot, die verbleibende Penny Northern ist im Krankenhaus und auch bei Scully wurde derselbe Krebs diagnostiziert.

Mulders Nachforschungen führen ihn zunächst zu den Akten der Lehigh Furnace's Center for Reproductive Medicine, wo die Gruppe der MUFON-Frauen wegen Unfruchtbarkeit behandelt wurde, und von dort aus mit Hilfe der Lone Gunmen zum Lombard Forschungszentrum. Dort trifft er auf eine Gruppe von Klonen, die Kurt Crawfords, und findet heraus, dass den entführten Frauen während der Tests sämtliche Eizellen entnommen wurden, um Alien-Mensch-Hybridenklone zu erschaffen. Die Entnahme der Eizellen erfolgte mittels des Einsatzes hochfrequenter radioaktiver Strahlung, die eine Superovulation erzeugte und die auch die Ursache für die Krebserkrankungen ist. Offenbar entstand der Krebs erst, nachdem die Implantate entfernt wurden, die wohl dazu dienten, den Krebs zu verhindern. Die als Laborassistenten beschäftigten Crawfords bezeichnen die entführten Frauen als ihre "Mütter" und verfolgen im Geheimen einen Plan, die Frauen zu retten (da die Crawfords rote Haare haben, gibt es Spekulationen, dass tatsächlich Scully ihre genetische Mutter ist). Mulder findet heraus, dass der Arzt, der die Frauen in der Klinik behandelt, für die Lombard Einrichtung arbeitet und dazu abgestellt wurde, das Ableben der Patientinen zu beschleunigen. Die entnommenen Eizellen werden in der Lombard Einrichtung aufbewahrt; Mulder nimmt eine Viole mit Scullys Eizellen mit. Wie schon im "Nisei"-Zweiteiler zeigt Akte X hier feministische Züge; einer der Crawford-Klone spricht ausdrücklich von "Männern", die dafür verantwortlich sind, was ihren Müttern angetan wurde und wird.

In der Zwischenzeit ist Scully im Krankenhaus zur Behandlung, kümmert sich um Penny Northern und schreibt Tagebuch, adressiert an Mulder. Ihre etwas gestelzten Einträge (vermutlich aus der Feder von Chris Carter) zeigen eine Scully, die versucht, ruhig und professionell mit ihrem Schicksal umzugehen, die aber auch deutlich machen, wieviel ihr Mulder bedeutet. Schon die Anfangsszene macht im Übrigen klar, dass sie als einzigen Mulder informiert hat, noch bevor sie ihre Mutter unterrichtet hat. Eine große Stütze findet sie in Penny Nothern, der Mitpatientin. Als sie erfährt, dass Scanlon nicht versucht, sie zu therapieren, sondern im Gegenteil ihr zu schaden, ist es für Penny Nothern zu spät; Scully hingegen entscheidet sich, die Klinik zu verlassen und ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Durch ihre Erkrankung ist die Arbeit an den X-Akten nun auch für sie zu einer höchst persönlichen Mission geworden: Sie sucht nach der Antwort darauf, was ihren Krebs verursacht hat und wie er zu heilen ist.

Auch Mulder ist nun noch entschlossener, der Verschwörung auf den Grund zu gehen. Anders als die anfangs noch fatalistisch wirkende Scully ist er zu keinem Zeitpunkt bereit, Scullys Krankheit zu akzeptieren. Seine Angst um Scully ist offensichtlich und wird sehr deutlich daran, dass er im Lagerraum in der Lombard-Einrichtung noch nicht einmal nach einer Schublade mit Samanthas Namen sucht. In Skinners Büro ist er bereit, für Scully einen Deal mit dem Raucher einzugehen. Als er Scully im Krankenhaus wieder trifft, sagt er ihr nicht, dass er erfahren hat, dass sie unfruchtbar ist.

An Mulders Stelle ist es in "Memento Mori" Walter Skinner, der den Pakt mit dem Raucher eingeht, um Scully zu retten - nachdem er Mulder das ausreden konnte. Die Parallelen zum Pakt mit dem Teufel nicht zu übersehen. Es ist ein Beweis für seine Loyalität gegenüber seinen Agenten, bringt diese aber gleichzeitig in Gefahr, da Skinner nun erpressbar ist.

"Memento Mori" brachte Gillian Anderson einen Emmy für ihre schauspielerische Leistung ein. Scullys Kampf mit ihrer Verzweiflung und ihr Versuch, rational und professionell zu bleiben - womit sie wiederholt scheitert - werden von Anderson hervorragend dargestellt. Die besten Szenen sind diejenigen mit Gillian Barber als Penny Northern, und mit Duchovny vor allem gegen Ende der Episode im Krankenhaus. Auch Duchovny bringt Mulders Gefühlschaos sehr gut herüber. Die Episode hat sowohl großartige Charaktermomente in Scullys Handlungsstrang als auch sehr spannende Sequenzen in der Handlung um Mulders Nachforschungen. Vor allem der Einbruch in die Lombard-Einrichtung und die Szenen im Labor der Klone mit den Tanks fand ich beeindruckend inszeniert. Die Verknüpfung der beiden sowohl thematisch als auch atmosphärisch so unterschiedlichen Handlungsstränge ist ein sehr ambitioniertes Vorhaben und hätte auch gut schiefgehen können. Sie ist jedoch sehr gut gelungen - was umso bemerkenswerter ist, als das Drehbuch den Produktionsnotizen zufolge in nur wenigen Tagen geschrieben werden musste - und brachte dem Autorenteam ebenfalls eine Emmy-Nominierung ein. Insgesamt finde ich "Memento Mori" eine rundum gelungene Episode; ich vergebe sechs Röntgenbilder dafür.
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Sa 23. Mär 2019, 20:26

Folge 15, Staffel 4: "Der Golem / Kaddish"

Drehbuch: Howard Gordon
Regie: Kim Manners



In New Yorker Stadtteil Brooklyn wird ein Jude von Neonazis ermordet. Kurz darauf wird einer der Täter selbst tot aufgefunden, auf der Leiche finden sich Fingerabdrücke des ermordeten Isaac. Scully vermutet, dass die Abdrücke dort platziert wurden, während Mulder glaubt, dass Isaac als Golem wieder zum Leben erweckt worden ist.

Der Episodentitel "Kaddish" ist der Name eines jüdischen Morgengebets, das von den Angehörigen eines Verstorbenen dreißig Tage lang nach dessen Tod gesprochen wird. Ähnlich wie "Teliko", "Teso Dos Bichos" oder "El Mundo Gira" handelt es sich bei "Kaddish" um eine Horrorstory mit einem Hintergrund in einer ethnischen Gemeinde, allerdings ist die Umsetzung bei "Kaddish" wesentlich besser gelungen, was möglicherweise daran liegt, dass Drehbuchautor Howard Gordon selbst jüdischer Abstammung ist. Entsprechend wirken die jüdischen Charaktere authentischer und der ganze Skript erscheint besser recherchiert. Der Golem ist ein Wesen aus der jüdischen Literatur, aus Lehm geschaffen von Weisen mit Hilfe der Buchstabenmystik. Er ist in der Regel stumm und nur zu rudimentären Emotionen imstande, ist aber handlungsfähig. Wie Mulder es ausdrückt, ist ein Golem in gewisser Weise das Gegenteil von einem Geist: "A ghost is spirit without form. I believe what we're looking for and what we're seeing here, is… is form without spirit." Der jüdische Gelehrte Ungar bezeichnet den Golem as "matter without form, body without soul."

Wie Ungar ausführt, spielt im jüdischen Glauben die Macht der (gesprochenen der geschriebenen) Worte eine große Rolle: "...the power of letters, not just to create, but to kill." Der Golem wird durch ein Wort erschaffen, und kann nur durch ein Wort auch wieder zerstört werden. Interessanterweise ist es in "Kaddish" das Wort "Wahrheit", das den Golem zum Leben erweckt. Entfernt man aus "Wahrheit" den ersten Buchstaben, so wird daraus "Tod". "See, Mr. Mulder, therein lies the paradox… because the danger of the truth is contained in the word golem itself." Die Episode schlägt hier den Bogen zu einer Frage, die die Serie schon früher gestellt hat - nämlich, was passiert, wenn Mulder die Wahrheit findet. In "Kaddish" hat "die Wahrheit" ein mörderisches Monster hervorgebracht, mit dem sich Mulder nun konfrontiert sieht.

Mit dem Thema der Macht von Worten befasst sich die Episode auch auf Seiten der Antisemiten, vor allem Curt Brunjes, der diese antisemitischen Pamphlets verbreitet. Bunjes betont, er sei nie gegen die jüdische Gemeinde tätlich geworden. "What the hell were you thinking? I never told you to kill anyone." Woraufhin der Täter Derek antwortet: "No? What did you expect me to do? Hide back here like you?" und "These are just words. You think they killed my friends with just words?" Natürlich ist genau das passiert - sie wurden von dem durch ein Wort erschaffenen Golem umgebracht. Drehbuchautor Gorden hatte den Produktionsnotizen zufolge zunächst in Erwägung gezogen, schwarz-afrikanischen Antisemitismus zum Thema zu machen, sah dann jedoch von diesem Vorhaben ab, da er glaubte, dass diese Thematik zu komplex für eine 40-Minuten-Episode sei, in der sie nicht einmal das zentrale Thema war. Das Resultat ist leider, dass seine Neonazis im Unterschied zu den jüdischen Charakteren sehr eindimensional daherkommen.

Die Antisemitismus-Thematik ist in "Kaddish" nur ein Nebenkriegsschauplatz; im Zentrum der Geschichte steht das Schicksal der jüdischen Familie und insbesondere Ariels, die ihren ermordeten Verlobten zurückbringen wollte, um ihre Hochzeit vor Gott abschließen zu können, und dabei ein mörderisches seelenloses Monster erschaffen hat. Diese Auflösung, wer den Golem erschaffen hat und aus welchem Grund, kam zumindest für mich doch sehr überraschend. Die finale Szene, die Hochzeitszeremonie mit Ariel und dem Golem, die damit endet, dass Ariel das Monster tötet, fand ich sehr ergreifend, tragisch und gleichzeitig auch schauerlich.

Von unseren beiden Agenten kommt, wie öfter in Howard Gordans Drehbüchern, Mulder hier besser weg als Scully. Scully liegt wieder einmal mit ihren Theorien völlig daneben, sei es die Idee, die Fingerabdrücke seien von jemandem platziert worden, um eine falsche Spur zu legen, oder ihre Erklärung, weswegen ein vergrabenes Buch plötzlich in Flammen aufgehen kann. Mulder hingegen ist hier wieder auf der Seite der Opfer, und kann sich die Probleme der jüdischen Gemeinde gut hineinversetzen, auch wenn die Episode klar macht, dass er selbst kein Jude ist. Wie in anderen Episoden über die Situation von Einwanderern macht Akte X auch in "Kaddish" klar, dass die Einwanderer vom FBI allein gelassen werden: "Where were you when Isaac needed your protection? When we called the police, they said we were paranoid, that there was nothing to worry about." Schon in "Hell Money" und "Teliko" versagte der Staat, als es um den Schutz von Einwanderern ging.

"Kaddish" ist eine sehr ernste Episode, die für Akte X typischen heiteren Momente fehlen fast völlig. Die Folge ist durchweg von einer Atmosphäre der Trauer und Melancholie durchzogen, das gilt nicht nur für die Dialoge, sondern auch für die Farbgebung und die Musik. Die Verknüpfung der Themen und besonders die Beschreibung der jüdischen Familie haben mir diesmal - anders als in den schon genannten anderen Einwandererfolgen - sehr gut gefallen. Lediglich die Neonazis waren sehr stereotyp. Es gibt einige sehr beeindruckende Szenen, so bereits eingangs die Erschaffung des Golem in einem Gewitter, die Entdeckung des Buchs bei der Exhumierung Isaacs Leiche, das kurz darauf in Flammen aufgeht, und natürlich die abschließenden Szenen mit der Hochzeitszeremonie. Gut fand ich auch, dass im Unterschied zu "Teliko" oder "Shapes" hier endlich einmal der mystische Hintergrund, in diesem Fall des Golem, vernünftig recherchiert und umgesetzt worden ist. Auch wenn die Geschichte insgesamt etwas konventionell war, und die Neonazis nicht viel mehr als Pappkarton-Bösewichter, hat mir "Kaddish" insgesamt gut gefallen. Ich gebe gute vier brennende Bücher dafür.
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » So 24. Mär 2019, 17:20

Folge 16, Staffel 4: "Unsichtbar / Unrequited"

Drehbuch: Howard Gordon & Chris Carter
Regie: Michael Lange



Ein Vietnam-Veteran ist nach langer Kriegsgefangenschaft entkommen und in die USA zurückgekehrt. Der ehemalige Soldat, der in Gefangenschaft gelernt hat, für andere unsichtbar zu erscheinen, will sich an den Generälen rächen, die ihn und seine Mitgefangenen für tot erklärt und zurückgelassen haben.

In "Unrequited" nimmt Akte X die Thematik des Schicksals der Vietnam-Veteranen wieder auf; auch in "Sleepless" in Staffel 2 und in "Avatar" in Staffel 3 war das schon ein Thema. Nathaniel Teager war ein Kriegsgefangener im Vietnam-Krieg; einer von mehreren, die von der amerikanischen Regierung nach dem Kriegsende dort zuückgelassen worden waren. Wie öfter in Akte X liegt dem eine reale Verschwörungstheorie zugrunde. Gerüchte über überlebende Kriegsgefangene oder verschwundene Soldaten in Vietnam sind nie verstummt und wurden von Nixon sogar noch befördert, da die Anzahl der zurückkehrenden Soldaten wesentlich geringer war als die, die nach Angaben der Nixon-Administration dort festgehalten wurden. Auch in einem anderen Punkt bezieht sich "Unrequited" auf ein reales Ereignis, nämlich die Berichte, dass nach dem Abzug der US-Truppen aus Südvietnam deren süd-vietnamesische Verbündete in Bürgerkriegen oder Exekutionen dem Tod überlassen worden waren: Marita Covarrubias erwähnt "recent news story, extremely embarrassing to the US military, about the disposing of South Vietnamese soldiers." Schließlich ist auch die Todeskarte, das Pik As, Bestandteil der Vietnam-Überlieferungen.

Teager will Rache an den Militärs nehmen, die die Kriegsgefangenen zurückgelassen haben, und bedient sich dafür einer Technik, die er in der Gefangenschaft gelernt hat, nämlich sich für Beobachter unsichtbar zu machen. Nach Aussage von Covarrubias kommt dies der US-Regierung gerade recht, denn sie will die Generäle ebenfalls tot sehen, damit sie für die Regierung peinliche Informationen nicht an die Öffentlichkeit bringen können. Die Idee, dass ein Kriegsveteran sich in einem blinden Fleck versteckt und so unsichtbar wird, um Rache zu nehmen, ist eine schöne Metapher, da das Schicksal dieser Soldaten oft übersehen oder ignoriert wird. Leider wird nicht wirklich erklärt, wie er das bewerkstelligt, was die Sache etwas unbefriedigend macht. Damit das Ganze funktioniert, dürfte es nicht ausreichen, dass Teager sich einen existierenden blinden Fleck zunutze macht, er müsste so eine Konstellation aktiv herbeiführen können. Außerdem ist nicht klar, wie die Technik funktionieren soll, wenn mehrere Personen ihn aus verschiedenen Winkeln beobachten, denn wie Mulder sagt, "he can only hide himself in somebody's direct line of sight."

Überhaupt erfährt man von Teager, seinem Charakter, seinem Schicksal in Vietnam, den näheren Gründe für sein Motiv, nicht viel, ebenso wie die Generäle eindimensional bleiben. Auch auf die peinlichen Informationen, die sie ans Licht bringen könnten, wird für meinen Geschmack zu wenig eingegangen. Die emotional bewegendste Szene war noch, als Teager die Frau eines sich noch in Gefangenschaft befindlichen Soldaten trifft.

Das vielleicht größte Problem von "Unrequited" ist aber m.M.n. die Strukturierung der Episode, die im Teaser mit der Ansprache eines Generals über den Vietnam Krieg und dem Versuch der Agenten, Teager zu stellen, beginnt, die dann später praktisch eins-zu-eins wiederholt wird. Diese Technik hat Akte X schon früher verwendet, so bspw. im Tunguska-Zweiteiler mit der Szene um Scullys Anhörung im Senat. Das Problem ist hier, dass der Rest der Episode eigentlich nur bestätigt, was man im Teaser bereits erfährt, so dass es eigentlich keinen Grund gibt, diese mehrere Minuten dauernde Szene in voller Länge gleich zweimal zu zeigen.

Insgesamt finde ich "Unrequited" eher unspektakulär; es hätte eine gute Gelegenheit sein können, Skinner und seine Vietnam-Vergangenheit stärker einzubeziehen, aber das wurde größtenteils versäumt. Muder und Scully haben nicht viel zu tun, es gibt ein paar nette Dialoge zwischen den beiden, in denen es um Teagers Fähigkeit geht, sich unsichtbar zu machen. Ansonsten sind die Charaktere Teagers sowie der Generäle zu unterentwickelt, um einen wirklich zu interessieren, wie die Fähigkeit Teagers funktioniert, ist für mich nicht nachvollziehbar, und die merkwürdige Strukturierung des Episode bewirkt, dass die Handlung irgendwie zerfasert wirkt und nie richtig zusammenkommt. Ich finde "Unrequited" etwas enttäuschend und gebe drei Pik As-Karten dafür.
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Di 26. Mär 2019, 17:44

Folge 17, Staffel 4: "Tempus Fugit Teil I / Tempus Fugit"

Drehbuch: Chris Carter & Frank Spotnitz
Regie: Rob Bowman



Im US-Bundesstaat Washington ist ein Passagierflugzeug abgestürzt. An Bord war Max Fenig, ein mehrfaches Entführungsopfer, bekannt aus der ersten Staffel von Akte X. Mulder und Scully werden von Maxs Schwester über den Fall informiert und schalten sich in die Untersuchungen ein. Mulder glaubt, dass ein UFO das Flugzeug abgefangen hat, um Max und das, was er bei sich hatte, zu entführen. Bald finden sich Hinweise darauf, dass nicht nur das Flugzeug, sondern auch das UFO abgestürzt ist.

In "Tempus Fugit", zu deutsch "die Zeit flieht", sehen wir die Rückkehr von Max Fenig, dem epilepsiekranken Entführungsopfer aus der Staffel 1-Episode "Fallen Angel". Gleich im großartig inszenierten Teaser sitzt er offensichtlich völlig verängstigt im Flugzeug, klammert sich an einen Rucksack, und sieht sich immer wieder nach einem kahlköpfigen Mann um, der die Blicke erwidert und dann zur Toilette geht. In der Toilette bastelt der Kahlköpfige eine Waffe zusammen - es sieht alles danach aus, dass er die Maschine in seine Gewalt bringen will. Aber es kommt anders: Plötzlich dringt durch die Fenster der Maschine weißes Licht, das Flugzeug wird durchgeschüttelt, Max starrt schreckerfüllt auf den Notausgang neben ihm - dessen Tür von einer von außen einwirkenden Kraft aus der Wand gerissen wird. Das Flugzeug stürzt ab, und 134 Passagiere mit ihm. Es ist vielleicht die denkwürdigste Entführungsszene der ganzen Serie, die Entführung durch ein UFO aus einem Flugzeug eines der erschreckendsten Szenarien, die man sich vorstellen kann.

Max war bereits in "Fallen Angel" zweimal entführt worden, einmal zu Beginn der Episode und dann ein zweites Mal am Ende. Dem Fall wurde nicht weiter nachgegangen, da angeblich seine Leiche in einem Frachtcontainer gefunden worden war. Offenbar war das wieder einmal eine Täuschung, denn Max ist zu Beginn von "Tempus Fugit" am Leben, und versucht immer noch zu verstehen, was ihm eigentlich widerfahren ist. Er ist auf wichtige Informationen gestoßen, die er zu Mulder bringen will, als er sich trotz böser Vorahnungen in den Flieger setzt. Ein Außenseiter, der ohne jedes Verschulden in etwas hineingeraten ist, das sein Leben zerstört hat und das er bis heute nicht versteht.

Maxs Schwester Sharons Informationen führen dazu, dass sich Mulder und Scully dem Aufklärungsteam anschließen - an der Absturzstelle finden sich Armbanduhren, die samt und sonders neun Minuten nach der gemeldeten Absturzzeit stehengeblieben sind, und die später verschwinden.Zwei Offiziere, die den Absturz aus einem Flugüberwachungsturm des Militärs beobachtet haben, wissen offensichtlich mehr, als sie aussagen. Als einer der beiden Selbstmord begeht, ersucht der andere Mulder und Scully um Schutz. Aufgrund seiner nun revidierten Aussage entwickelt Mulder die Theorie, dass Flug 549 abgestürzt ist, weil ein Militärflugzeug versucht hat, ein getarntes UFO abzuschießen, das Max aus dem Flugzeug entführen wollte. Bei der Bergung der Überreste des Passagierfliegers wird Maxs Leiche mit radioaktiven Verbrennungen gefunden und ein Mann lässt die Waffe, die im Flugzeug zusammengebaut wurde, verschwinden. Mit den fehlenden neun Minuten, der Radioaktivität und den Vertuschungsversuchen schlägt "Tempus Fugit" einen direkten Bogen zu den Mythologieepisoden der ersten Staffel und dem Pilotfilm. Scully findet heraus, dass Max unter falschem Namen in einer Nuklearwaffenfabrik gearbeitet hat und vermutet, er habe dort Plutonium gestohlen; währenddessen wird Sharon aus ihrem Motelzimmer entführt.

Mit dem Leiter des Untersuchungsteams Mike Millar hat "Tempus Fugit" einen sehr interessanten Gastcharakter. Millar, ein methodisch und analytisch vorgehender Mann, verhält sich anfangs angesichts von Mulders UFO-Theorie sehr ablehnend, macht sich über ihn lustig und beschuldigt ihn, dem Ernst der Situation nicht gerecht zu werden. Als er jedoch auf Hinweise stößt, die er nicht erklären kann - die Form der Risse im Flugzeugfenster - geht er auf Mulder zu und nimmt dessen Hinweise ernster. Als er dann selber über der Absturzstelle ein UFO sieht und auch noch erlebt, wie die weinende und völlig verstörte Sharon zurückgebracht wird, wird sein technisch-wissenschaftlich geprägtes Weltbild vollends auf den Kopf gestellt. Es ist einer der seltenen Fälle, dass einer Autoritätsfigur so etwas widerfährt - und ein gelungenes Beispiel für einen Charakterbogen einer nur einmalig auftretenden Figur.

"Tempus Fugit" und die Folgeepisode "Max" werden generell als Mythologieepisoden angesehen, allerdings ist ihre Funktion nicht, die Mythologie voranzubringen. Zentrale Charaktere wie der Raucher, der Brite, Krycek und Covarrubias sind allesamt abwesend, wichtige Handlungselemente wie die Kolonisierung, die Klone, die Hybridisierungsexperimente oder das Schwarze Öl werden nicht erwähnt. Im Mittelpunkt stehen die Auswirkungen der Geschehnisse auf das Schicksal von Randcharakteren wie Max Fenig oder Sharon. Das Syndikat spielt keine Rolle, der Abschuss des UFO geht auf das Konto des Militärs, das damit die UN-Resolution SR 1013 erfüllt. Mit ihr, dem Wiederauftauchen von Max und dem Wiederaufnehmen weiterer zentraler Elemente aus Staffel 1-Episoden wie den verlorenen neun Minuten oder den radioaktiven Verbrennungen wird das Geschehen mit dem Beginn der Serie verknüpft.

"Tempus Fugit" zeichnet sich weiterhin durch eine Reihe schöner Charaktermomente aus. Da ist zunächst einmal Scullys Geburtstag und Mulders Geschenk, eine Szene, die mir sehr gut gefallen hat. Auch Mulders Auftritt vor dem Bergungsteam, seine Präsentation seiner Theorie, und die Reaktion der anderen Anwesenden erinnern sehr stark an ähnliche Szenen in der ersten Staffel, die in jüngerer Vergangenheit seltener vorgekommen sind. Den Ereignissen zum Opfer fällt leider auch Agent Pendrell, Scullys etwas tapsiger Verehrer, der hier eigentlich nur Scullys Geburtstag feiern wollte, aber in die Konfrontation um den Flugbeobachter Frish hineingerät und angeschossen wird.

Die Episode glänzt mit den schauspielerischen Leistungen von Scott Bellis in der Rolle des Max, Chilton Cranes als Sharon und Joe Spanos als Mike Millar. Sie hat zahlreiche wirklich großartig inszenierte Szenen: Zuallererst natürlich der wirklich phänomenale Teaser, aber auch die Szenen bei der Bergung an der Absturzstelle, Millars Erlebnis später in der Nacht dort, sowie die Verfolgungsjagd auf der Landebahn des Flughafens waren großartig gemacht. "Tempus Fugit" endet mit gleich zwei spannendem Cliffhangern, Mulders Tauchexpedition, bei der er das gesunkene UFO und seinen außerirdischen Passagier findet, und den angeschossenen Agent Pendrell. Mir hat die Folge sehr gut gefallen, und ich vergebe sechs Apollo 11-Medaillone dafür.
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Mi 27. Mär 2019, 19:50

Folge 18, Staffel 4: "Tempus Fugit Teil II / Max"

Drehbuch: Chris Carter & Frank Spotnitz
Regie: Kim Manners



Im zweiten Teil des Zweiteilers versuchen Mulder und Scully weiter, den Absturz des Passagierfliegers und seine Hintergründe zu rekonstruieren. Der Offizier, der Mulder und Scully um Schutz ersucht hat, wird wegen Falschaussagen in Militärhaft genommen, Regierung und Militär versuchen, die Vorgänge zu vertuschen und Beweise zu beseitigen, und Agent Pendrell stirbt. Von Sharon erfahren die Agenten, was Max auf dem Unglücksflug bei sich hatte: Ein Stück außerirdischer Technologie.

Der Kern dessen, was Mulder und Scully letztlich über die Hintergründe des Absturzes herausfinden, ist schnell erzählt: Ein Rüstungsunternehmen hat versucht, die außerirdische Technologie für seine eigenen Zwecke zu nutzen, Max Fenig und Sharon - die, wie sich herausstellt, nicht Maxs Schwester, sondern eine Freundin ist - entwendeten das Artefakt, und die Aliens versuchten, es wieder in ihren Besitz zu bringen. Das Artefakt konnte in drei Teile zerlegt werden; den ersten hatte Sharon in ihrem Motelzimmer, wo sie mitsamt dem Teil entführt wurde, das zweite hatte Max mit im Flieger, um es zu Mulder zu bringen, und das dritte ließ er im Gepäckraum im Flughaften Syracuse zurück - wo es dann von Mulder abgeholt wurde. Auch Scott Garrett - ein Undercover-Agent, der für das Rüstungsunternehmen arbeitete - versuchte, in den Besitz des Artefakts zu kommen. Durch Eingreifen sowohl Garretts als auch der Aliens und des Militärs kam es zum Absturz von Flug 549.

Bei aller Action und allem Rätselraten über die Hintergründe des Absturzes ist "Max" in erster Linie eine Geschichte über die menschlichen Kollateralschäden der Verschwörung. Sowohl die Verschwörung als auch Mulders Versuch, sie aufzudecken, gehen mit enormen menschlichen Kosten für Unschuldige und Unbeteiligte einher; die mit Blut befleckte Visitenkarte Mulders ist ein Symbol dafür. "What are these people dying for? Is it for the truth or for the lies?", fragt Scully, und Mulder antwortet: "It's got to be for the truth. If we owe them anything, it's to make sure of that." Agent Pendrell stirbt, weil er wegen seiner Verehrung für Scully - die nicht einmal seinen Vornamen kennt - zur falschen Zeit am falschen Ort ist, die Offiziere Frish und Gonzales werden vom Militär im Interesse ihrer Vertuschungaktion geopfert; es steht zu vermuten, dass Gonzales in Wahrheit gar keinen Selbstmord begangen hat, sondern ermordet worden ist. Scott Garrett ist bereit, für die Erfüllung seines Auftrags zu sterben (und Mulder scheint ihn bis zuletzt davor bewahren zu wollen: "Let it go!"). Max Fenig und 133 andere Passagiere werden als Kollateralschäden in Kauf genommen, ebenso wie das Leben der Passagiere des Flugs, an Bord dessen Mulder am Ende der Episode ist, in Gefahr gebracht wird. Im Dialog zwischen Garrett und Mulder wird das thematisiert: "Look out your window, Agent Mulder. You see the lights? Now, imagine if one of those lights flickered off. You'd hardly notice, would you? A dozen… two dozen lights extinguished. Is it worth sacrificing the future, the lives of millions, to keep a few lights on?" und: "A man, if he's any man at all, knows he must be ready to sacrifice himself to that which is greater than he."

Schwierig wird diese Philosophie spätestens dann, wenn die Betroffenen nicht gefragt werden, ob sie zu diesem Opfer bereit sind, und völlig Unschuldige und Unbeteiligte sind. So wie Max Fenig, dessen Geschichte dieser nicht grundlos "Max" genannte zweite Teil im Wesentlichen ist ("this is my story, obviously, as I'm telling it.") "Actually, all I ever wanted in life was to be left alone. Don't we all?" sagt Max auf dem Videotape, auf dem er seine Geschichte erzählt. Statt in Ruhe gelassen zu werden, wurde Max entführt, und allen möglichen Tests unterzogen, denen er höchstwahrscheinlich seine neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen zu verdanken hat, und die sein Leben zerstört haben. Zu allem Überfluss wird sein Schicksal von niemandem ernst genommen: "The worst part is, no one believes you!" Was er natürlich mit Mulder gemein hat - der in "Tempus Fugit", als er seine Entführungstheorie präsentiert, vom Untersuchungsteam ausgelacht wird. Nicht zum ersten Mal wird auf Parallelen zwischen Mulder und Max hingewiesen: "I think you were actually kindred spirits in some deep, strange way. [...] Men with Spartan lives, simple in their creature comforts if only to allow for the complexity of their passions." Sowohl Max als auch Mulder werden für verrückt gehalten, obwohl sie recht haben. Mulder hat offensichtlich große Sympathien für Max, wie für alle, die unschuldig unter die Räder kommen und von übermächtigen Widersachern missbraucht werden, und weigert sich, Max für tot zu halten, bis er tatsächlich seine Leiche identifiziert. Selbst nach dessen Tod sorgt er sich darum, wie man sich an Max erinnern wird.

Wie schon in "Fallen Angel" wird Max von Scott Bellis wunderbar dargestellt. Sehr eindrucksvoll war die Entwicklung dieser Darstellung verglichen mit dem Max in Staffel 1 - sie ließ erahnen, was Max in der Zwischenzeit alles widerfahren ist. Die Szene, als Max aus dem Flugzeug entführt wird, stellt selbst den Teaser von "Tempus Fugit" noch in den Schatten, sowohl was die schauspielerische Leistung von Bellis als auch was die Inszenierung mitsamt der Panik der Passagiere betrifft. Für Leute, die unter Flugangst leiden, ist das nichts. Ebenfalls sehr gut gelungen ist die Szene mit Mulder im Flugzeug, als er feststellt, dass seine Armbanduhr stehengeblieben ist und er vielleicht gleich selber entführt werden wird. Allerdings ist seine Anwesenheit an Bord dieses Fliegers auch einer der Kritikpunkte an dieser Episode: Wie leichtfertig, unvernünftig und geradezu idiotisch ist es, dass sich Mulder nach allem, was er herausgefunden hat, mit diesem Gepäck an Bord eines Linienfliegers begibt? Was mir ebenfals nicht gefallen hat, ist, dass ziemlich viele wichtige Dinge Offscreen passiert sind: Der Tod von Agent Pendrell, der Tod von Max, die Einweisung von Sharon. Und dies, obwohl die Folge ansonsten durchaus ihre Längen hatte. Einen schönen Abschluss fand die Episode wiederum in Scullys Reflektionen über Mulders Geschenk, und dessen Reaktion darauf. Insgesamt fand ich "Max" aber den schwächeren Teil dieses Zweiteilers. Ich vergebe gute fünf Teile außerirdischer Technologie dafür.
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Re: Akte X - Staffel 4

Beitragvon nevermore » Di 2. Apr 2019, 17:03

Folge 19, Staffel 4: "Rückkehr aus der Zukunft / Synchrony"

Drehbuch: Howard Gordon & David Greenwalt
Regie: James Charleston



Ein Kryobiologe wird beschuldigt, einen Kollegen vor einen Bus geworfen zu haben. Zuvor waren beide Wissenschaftler von einem scheinbar verwirrten alten Mann vor diesem Unfall gewarnt worden, der dann von einem Sicherheitsbeamten aufgegriffen wurde. Kurz darauf ist der alte Mann verschwunden und es wird die eingefrorene Leiche des Sicherheitsbeamten gefunden. Während Scully eine Intrige vermutet, glaubt Mulder, dass der alte Mann der aus der Zukunft zurückgereiste Kryobiologe ist.

Mit "Synchrony" begibt sich Akte X auf das gefährliche Terrain der Zeitreisen. Zwar wurden Zeitreisen von Mulder früher schon als Möglichkeit in den Raum gestellt - so z.B. in "Død Kalm" - dies ist jedoch die erste Episode, die Zeitreisen in dem Mittelpunkt der Handlung stellt.
Später in der Serie gibt es noch weitere Folgen, die von Zeitreisen handeln, vor allem "Monday" in der sechsten und "Redrum" in der achten Staffel.
"Synchrony" ist damit eine der seltenen Episoden, die mit Science Fiction-Konzepten arbeiten (andere Beispiele sind die unsichtbaren Tiere in "Fearful Symmetry" oder die dunkle Materie in "Soft Light"). Generell tut sich Akte X mit solchen Konzepten eher schwer, und Carter hatte mehrfach, zuletzt noch vor Beginn der vierten Staffel, betont, man würde bewusst versuchen, sie zu vermeiden:
I must stay away from things like time travel and science fiction conventions because it gets away from the groundedness of the show, and Agent Scully would no longer have a valid point of view.

Anders als viele andere Zeitreise-Geschichten beschäftigt sich "Synchrony" nicht mit der Problematik, was ein in der Zeit Zurückgereister möglicherweise anrichtet, wenn er absichtlich oder auch nur versehentlich die Vergangenheit verändert. Jason Nichols Motivation ist es, zu verhindern, dass seine eigenen und Lisa Ianellis Forschungen die Möglichkeit von Zeitreisen Realität werden lassen. Er begründet das damit, dass eine Welt, in der Zeitreisen möglich sind, ein schrecklicher Zustand ist: "A world without history, without hope. Where anyone can know everything that will ever happen. I've seen that world." Der Teaser der Episode deutet an, was damit gemeint ist: Der alte Jason warnt vor dem Busunfall, nennt sogar den genauen Zeitpunkt, an dem er sich ereignen wird, kann ihn aber dennoch nicht verhindern. Zeitreisen, so die Aussage der Episode, bedeuten, dass jedermann Zugang zu jedem Augenblick der Geschichte hat, und alles, was sich jemals ereignen wird, wissen kann, diese Ereignisse aber unveränderlich sind, so dass es keine Erwartungen und keine Hoffnung gibt. Diese Sichtweise wird später in der Episode bestätigt, als Mulder aus Scullys Undergraduate Thesis zitiert: "... each universe can produce only one outcome... I take that to mean that you were suggesting that the future can't be altered. Which means that the elder Jason Nichols' attempts to stop his own research will fail, and that eventually his compound, and time travel, will be discovered." Jason Nichols ist ein vergleichsweise sympathischer Antagonist; er tötet nicht aus niederen Beweggründen, und sein erster Versuch, die Geschichte zu ändern, besteht darin, Lucas Menand zu retten, der dabei war, den jungen Jason um die Forschungsgelder für seine Studien zu bringen.

Leider hat die Geschichte noch mehr logische Probleme als Zeitreise-Geschichten sie zumeist ohnehin schon haben. Das fängt schon mit dieser Prämisse an, dass die Zukunft nicht verändert werden kann, die nicht nur dem Geist der Serie zuwiderläuft (warum bekämpft man Verschwörungen, warum versucht man Krankheiten zu heilen etc., wenn die Zukunft ohnehin vorherbestimmt ist? In "Clyde Bruckman's Final Repose" wurde dies schon thematisiert), sondern auch den Ereignissen in der Episode selbst widerspricht. Da der alte Jason damit Erfolg hat, den jungen Jason zu töten, hat er die Zukunft eben doch verändert. Zwar wird das Verfahren von Lisa auch ohne den jungen Jason entwickelt, aber der junge Jason ist eben tot und nicht lebendig, was ein anderes Ergebnis als ohne das Eingreifen des alten Jason ist. Womit wir beim nächsten Problem wären: Wenn der junge Jason vor der Entwicklung des Zeitreiseverfahrens stirbt, kann er nicht als alter Jason in der Zeit zurückreisen und seinen eigenen Tod herbeiführen. Ebenso dürfte das Foto nicht existieren, wenn der alte Jason die Leute, die darauf zu sehen sind, getötet hat. In herkömmlichen Zeitreise-Geschichten könnte man dieses Paradoxon überwinden, indem eine neue Zeitlinie generiert wird, und sich die Geschichte sozusagen verzweigt. Genau das wird durch die Prämisse der Folge, dass die Zukunft unveränderlich ist, aber ausgeschlossen. Noch dazu kommt, dass es die Anwesenheit des alten Jason ist, die Lisa zu der Entdeckung der chemischen Verbindung führt. Der alte Jason hat also die Zukunft verändert, entgegen der Prämisse, dass dies nicht möglich sein sollte, und das, obwohl er logisch gar existieren dürfte.

Das Vorgehen von Jason ist - wenn es ihm darum geht, die Entwicklung des Verfahrens für Zeitreisen zu verhindern - ohnehin ziemlich unverständlich. Nicht nur erklärt er Lisa und seinem jüngeren Selbst, was sie erfinden werden und wie, sondern er verwendet die Gefrier-Chemikalie als Mordwaffe und lässt überall Spuren dieser Chemikalie, deren Entwicklung er verhindern will, zurück. Warum tötet er den Sicherheitsmann, Dr. Yonechi und Lisa nicht mit einer Waffe, die in deren Welt existiert? Das erscheint mir alles nicht einmal im Ansatz durchdacht, und es überraschte mich nicht, in den Produktionsnotizen zu lesen, dass das Drehbuch während der Produktion ständig umgeschrieben werden musste. Auch nur annähernd logisch wurde die Geschichte dadurch nicht.

Es hilft der Episode auch nicht, dass die Charaktere von Lisa und dem jungen Jason kaum entwickelt sind. Weder Lisa noch der junge Jason sind sonderlich sympathisch oder unsympathisch, über ihr Leben oder ihre Hintergründe erfährt man nichts. Der junge Jason wirkt wie ein typischer arroganter Jung-Wissenschaftler, ein Ehrgeizling, der auch noch die meiste Zeit der Episode im Gefängnis verbringt. Lisa bleibt weitgehend blass, sie war auch diejenige, die die Forschungsergebnisse fälschte, als sie nicht den Erwartungen entsprachen. Die einzige Figur, die ich emotional berührend fand, ist der ältere Jason in seiner Verzweiflung und Liebe zu Lisa, was sicherlich auch an der gelungenen Darstellung durch Michael Fairman liegt.

Scully kommt in "Synchrony", wie des Öfteren in Skripts von Howard Gordon, geradezu pathologisch skeptisch, um nicht zu sagen borniert herüber. Sie hält sofort den jungen Jason für den Mörder von Lucas Menand, und das, obwohl es sogar ohne Zeitreise-Theorie andere Möglichkeiten gibt. "He's a cryobiologist. He freezes things for a living. How many people can do that?" - "Just about anybody who’s up for that grant money could." Als Lisa versucht, Jason zu retten, setzt sie sich nur in die Ecke und behauptet, dass diese Versuche zum Scheitern verurteilt sind. "Well, if he's already dead, then he's got nothing to lose," bringt es Mulder auf den Punkt. Es kommt praktisch die ganze Episode hindurch nichts Konstruktives von Scully, und gegen Ende reibt ihr Mulder dies direkt unter die Nase: "You were a lot more open-minded when you were a youngster." Man sollte von Scully wirklich etwas mehr Interesse und Engagement erwarten, angesichts der Thematik und des Tatbestands, dass sie Wissenschaftlerin ist.

Es ist jetzt nicht alles schlecht an "Synchrony"; die Folge ist, wenn man die klaffenden Logik-Krater ignoriert, einigermaßen interessant und spannend, und mit dem alten Jason hat sie auch einen interessanten Gastcharakter. Die Szenen, in denen die Opfer schockgefrieren und das Verbrennen von Dr. Yonechi waren tricktechnisch gut gemacht. Auch die Schluss-Szene, als der alte Jason sein jüngeres Selbst umbringt, war eindrucksvoll. Das Thema ist im Grunde ja auch interessant, aber in der Summe waren mir die Logikfehler zu viel und Scully fand ich in dieser Episode wirklich ärgerlich. Ich vergebe insgesamt drei Injektionen Gefriermittel dafür.
nevermore
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