Folge 10, Staffel 4: "Die Sammlung / Paper Hearts"
Drehbuch: Vince Gilligan
Regie: Rob Bowman
Aufgrund eines Traums findet Mulder die Leiche eines Mädchens, das auf dieselbe Weise ermordet wurde wie dreizehn andere Opfer eines Serienkillers, den er vor Jahren überführt hat. Mit Scully macht er sich auf die Suche nach weiteren Opfern. Als er den Täter befragt, deutet der an, dass auch Samantha eines der Opfer sein könnte, und scheint viel zu viel über die Umstände ihres Verschwindens zu wissen.
"Paper Hearts" ist eigentlich eine Stand-Alone-Episode, hängt aber stark mit der Mythologie der Serie zusammen, da das Verschwinden von Samantha Mulder der treibende Faktor sowohl der Mythologie als auch dieser Einzel-Episode ist. Als echte Mythologie-Episode kann man "Paper Hearts" dennoch nicht bezeichnen, da sie die Rahmenhandlung nicht voranbringt, sondern sich auf die Auswirkungen von Samanthas Verschwinden auf Mulder konzentriert.
Mulder, dessen Rolle hier wieder an seine ursprüngliche Tätigkeit als Profiler anknüpft, wird vor die - für ihn gradezu existenzielle - Frage gestellt, was wäre, wenn er mit seiner Annahme, Samantha sei von Außerirdischen entführt worden, vollständig auf dem Holzweg ist, und Samantha in Wahrheit das Opfer eines Serienmörders geworden ist. Die einzigen paranormalen Elemente der Episode sind Mulders visionäre Träume und seine Verbindung zu John Lee Roche, die diesem irgendwie Einblicke verschafft, was mit Mulders Schwester geschehen ist und ihn buchstäblich in Mulders Kopf eindringen lässt. (Scullys alternative Erklärung, dass Roche die Informationen über Samanthas Fall im Internet zusammengesucht hat, erklärt nicht die Vielzahl an Details, die Roche weiß, bis hin zu dem Brettspiel, das die Kinder spielten, auch wenn sie natürlich ansonsten recht hat, dass Roche Mulder manipuliert.) Zweifel, ob Samantha tatsächlich von Außerirdischen entführt wurde, hatte Mulder schon früher - so Anfang von Staffel 2 in "Little Green Men". In "Paper Hearts" bekommt er nun erstmals ein klares Alternativszenario präsentiert - nämlich dass Samantha ein Opfer von Roche geworden ist. Sein Traum, in dem Roche Samantha entführt, und die vielen Details, die Roche über die Nacht der Entführung zu wissen scheint, bringen Mulders Zweifel mit bisher nicht dagewesener Vehemenz zurück. Er beginnt sich zu fragen, ob er die ganze Zeit vor einer Wahrheit davon gelaufen ist, die noch schrecklicher als eine Entführung durch Außerirdische ist.
An dieser Stelle sollte vielleicht auf einige Einwände eingegangen werden, die mir bei der Recherche zu dieser Episode wiederholt begegneten - nämlich, dass zu diesem Zeitpunkt in der Serie die Möglichkeit, dass Samantha von Roche getötet wurde, dem Zuschauer nicht mehr zu vermitteln sei. Ich glaube, dass "Paper Hearts" gar nicht versucht, dem Zuschauer dies ernsthaft zu vermitteln. Die Episode stellt nämlich zu keinem Zeitpunkt irgendeinen Bezug zu den zentralen Geschehnissen in den Mythologie-Mehrteilern her, um zu versuchen, diese Ereignisse irgendwie in Zweifel zu ziehen. Roche redet nicht von den Klonen in "Colony" oder in "Herrenvolk" auf der Bienenfarm oder von dem Archiv in der Strughold-Mine mit Samanthas Akte. Mulders Konfusion entsteht durch die ganz persönlichen Dinge, die Roche weiß - der Typ des Staubsaugers, den er Mulders Mutter verkauft hat, die Szenerie im Wohnzimmer der Mulders am Abend der Entführung. Der Zuschauer soll nicht zweifeln, ob Samantha von Außerirdischen entführt wurde - Mulder soll zweifeln. Nach all den Täuschungen durch das Syndikat, das ihn schon vorher, bspw. in "E.B.E.", mit viel Aufwand auf Irrwege geführt hat, soll er die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass er wieder einer Täuschung aufgesessen ist.
Ein anderer Punkt, der kritisiert wurde, ist Mulders Leichtsinn, in dem er mit Roche allein loszieht. Derartige Aussetzer hatte Mulder aber auch schon früher, und besonders dann, wenn es um Samantha ging. Dass er seine FBI-Ausbildung nicht gänzlich vergessen hat, zeigt der Trick, mit dem er Roche ins falsche Haus führt - was dieser nicht merkt, so dass zu diesem Zeitpunkt für den Zuschauer endgültig klar ist, dass Roches Geschichte erfunden ist. Diesmal unterschätzt Mulder jedoch völlig die Auswirkungen der ganzen Geschichte auf ihn, was spätestens klar wird, als er Roche irgendwie im Schlaf befreit und so durch seinen Leichtsinn ein Mädchen in tödliche Gefahr gerät.
Roche, den Profiler Mulder nicht nur korrekterweise als Handelsvertreter identifizierte, sondern auch als "jemand Gewöhnlichen" beschrieb, scheint ähnlich wie Drehbuchautor Vince Gilligans Robert Modell aka Der Pusher eine Art Mythologie um sich selbst errichten zu wollen. Er zitiert ständig "Alice im Wunderland", scheint sich selbst als den verrückten Hutmacher zu betrachten und antwortet auf die Frage, warum er über die Zahl seiner Opfer gelogen hat, dass die Dreizehn "magischer" klinge. Dass er aus den Schlafanzügen Herzen herausschneidet, scheint zu symbolisieren, was er den Familien der Opfer weggenommen hat. Ähnlich wie Eugene Victor Tooms oder Donnie Pfaster ist er ein Allerweltsgesicht, hat aber anders als diese eine aalglatte Art an sich, das Stereotyp eines Staubsaugerverkäufers. Es macht ihm sichtlich Spaß, Mulder dazu zu bringen, alles und jedes von seinen Entscheidungen in der Untersuchung bis zur Entführung seiner Schwester in Frage zu stellen.
Das Zusammenspiel zwischen Roche und Mulder ist eine Art Gegenstück zu dem von Luther Boggs und Scully in "One Breath" in der ersten Staffel, als Boggs Scully auf ähnliche Weise manipulierte, indem er ihre Verletzbarkeit durch den kürzlichen Tod ihres Vaters ausnutzte. Auch Boggs brachte mit seinen tatsächlichen oder vermeintlichen hellsichtigen Fähigkeiten Scully dazu, alles in Frage zu stellen, woran sie bisher geglaubt hatte. Und während in "One Breath" Mulder die Rolle des Skeptikers annahm, ist es hier Scully, die Roche nicht glaubt und Mulder warnt, dass mit ihm Spielchen gespielt werden. Beim Vergleich beider Episoden zeigt sich (was sich schon in anderen Episoden andeutete), dass Scully die stabilere der beiden Persönlichkeiten ist. Während Scully in "One Breath" aufgrund Mulders Aufenthalt im Krankenhaus mit der Situation alleine fertigwerden musste und auch damit fertig wurde, hat Mulder hier jegliche Unterstützung, sowohl von Scully als auch von Skinner, ist aber dennoch derart von der Rolle, dass er eigentlich unverzeihliche Fehler begeht. Er schlägt einen Gefangenen, er nimmt ihn allein mit auf eine Freigangstour, zu allem Überfluss lässt er ihn auch noch mit seinen Papieren und seiner Waffe entkommen. Es ist eigentlich unglaublich, dass er nicht seinen Job verliert. Scully unterstützt ihn, wo sie nur kann - sie legt sich beim Verhör mit Roche an, sie verteidigt ihn gegenüber Skinner, sie hilft ihm, eine weitere Leiche auszugraben. Sie macht ihm am Ende klar, dass das sechzehnte Opfer nicht Samantha sein kann, und versucht, ihm den Glauben an sich selbst wiederzufinden, als er nicht mehr daran glaubt, das sechzehnte Opfer zu finden. Zu diesem Zeitpunkt der Serie hätte Mulder vermutlich zumindest seine Stelle verloren, wenn nicht noch Schlimmeres erlitten, wenn Scully nicht wäre.
"Paper Hearts" ist Vince Gilligans vierter Skript für die X-Akten und nach "Unruhe" der zweite, der mir richtig gut gefällt. Er greift hier die zentrale Triebfeder der Mythologie der Show auf und zeigt, was in den echten Mythologieepisoden oft zu kurz kommt - was die Auswirkung all dessen auf die Charaktere ist. Besonders die Traumszene, als Mulder auf dem Parkplatz seine soeben gerettete Schwester in die Arme schließt, bleibt hängen - so befreit hat man Mulder in der Serie bisher nicht gesehen.
Was die schauspielerischen Leistungen angeht, ist Tom Noonan hervorzuheben, der John Lee Roche zu einem großartigen menschlichen Monster macht. Roches seidenglatte Bosheit, seine perverse Freude über die Morde an den Mädchen und seine Manipulation Mulders sind ebenso wie sein Zurückkriechen angesichts Mulders Rage am Ende im Bus hervorragend dargestellt. Auch David Duchovny hat hier wieder einmal eine seiner Sternstunden. Ob es der getriebene Ausdruck auf seinem Gesicht ist, als er die Leiche ausgräbt, seine Hilflosigkeit und sein Schmerz, als er Scullys Hilfe sucht ("it's not her, is it?"), seine Erleichterung bei der Befreiung Samanthas in der Traumszene, oder eine der vielen anderen Szenen, in denen Mulder alles zwischen Verletztheit, Verzweiflung, Wut und Erleichterung durchlebt - Duchovny hätte für diese Episode einen Emmy verdient gehabt. Auch Gillian Anderson als die Mulder in allen Situationen unterstützende und Roche attackierende Scully hat mir gut gefallen.
Sehr gut gefallen hat mir auch die Inszenierung, in der düstere Szenen mit einer ungewohnten Verspieltheit besonders in den Traumsequenzen abwechseln. Die Verwendung des roten Laser-Pointers, die verwaschenen Farben in den Traumszenen, und Mark Snows Musik, besonders die Piano-Sequenzen, tragen viel zum Gelingen der Episode bei. Der finstere Charakter von Roche und die Unschuld der Opfer werden hier auch bildlich und musikalisch kontrastiert. "Paper Hearts" steht für mich als Charakterstudie in einer Reihe mit wirklich großen Stand-Alone-Episoden wie "Irresistible", "Grotesque", "Oubliette" etc. Ich gebe sechs Stoffherzen dafür.