Folge 24, Staffel 3: "Der Tag steht schon fest / Talitha Cumi"(Kopie von SciFi-Forum)
In einem Restaurant in Virginia zieht ein Mann plötzlich eine Waffe und schießt drei Gäste nieder, bevor er selbst von der Polizei niedergeschossen wird. Ein älterer Herr taucht in der Menge auf, der die Verletzten inklusive des Attentäters durch Handauflegen heilt. Kurz darauf ist er verschwunden - und nicht nur Mulder und Scully, sondern auch der Raucher sucht nach ihm.
Der Episodentitel "Talitha Cumi" stammt aus dem Markus-Evangelium, in dem Jesus mit diesen Worten ein Mädchen von den Toten auferweckt. Biblische und anderweitige religiöse Motive spielen in der ganzen Episode eine wichtige Rolle. Der Heiler Jeremiah Smith ist vermutlich nach dem Propheten im Alten Testament benannt. Auch der biblische Jeremia wurde verfolgt und eingesperrt und mit dem Tode bedroht, weil er Gottes Botschaft über unmoralische Machenschaften in Jerusalem und eine kommende Machtübernahme durch die Babylonischen Truppen überbrachte. In Akte X hat Jeremiah Smith eine ähnliche Funktion.
Anders als in diversen Rezensionen behauptet ist Jeremiah kein Außerirdischer, sondern ein Alien-Mensch-Hybridenklon, ähnlich wie die Gregors und Samanthas im "Colony"-Zweiteiler in der zweiten Staffel. Dies zeigt das Ergebnis von Scullys Nachforschungen, die fünf identisch aussehende Jeremiahs in verschiedenen Teilen des Landes ausfindig gemacht hat. Die Jeremiahs sind allerdings fortgeschrittene Hybriden; sie haben wie die außerirdischen Kopfgeldjäger Heilungskräfte, können die Gestalt wandeln und können nur durch das außerirdische Stilett getötet werden. Im Gegensatz zu den außerirdischen Kopfgeldjägern, die den Syndikatsmitgliedern gleichgestellt sind (siehe das Gespräch zwischen dem Raucher und dem Kopfgeldjäger an Mrs Mulders Krankenbett), stehen Klone aber sehr weit unten in der Hierarchie: "You're a drone, a cataloguer, chattel!" sagt der Raucher zu Jeremiah. Klone werden zu ausführenden Arbeiten eingesetzt, in "Colony" als Ärzte in Abtreibungskliniken, hier als Verwaltungsangestellte in der Sozialversicherungsbehörde. Geklonte Hybriden haben offenbar eine Tendenz zur Insubordination, wie schon in "Colony" angedeutet wurde. Dort wollten sie ihre eigene Kolonie gründen, hier sagt Jeremiah, "I no longer believe in the greater purpose."
Das Verhör von Jeremiah durch den Raucher, die wahrscheinlich größten Szenen der Episode, ist durch ein ähnliches Kapitel ("
Der Großinquisitor") in einem Roman von Dostojewski inspiriert ("Die Brüder Karamasow"; den Produktionsnotizen zufolge ist David Duchovny für diese Szenen verantwortlich). In dem Kapitel erscheint Jesus im Sevilla des 16. Jahrhunderts, wird von allen erkannt, da er Wunder vollbringt, und wird eingekerkert, weil er die Pläne der Kirche stört. (Bereits in der Eingangsszene im Fast Food Restaurant ist die Parallele offensichtlich: "God ... spared my life today. He took pity on my soul and he washed away my sins ... He reached down and he healed me with his hand. A man, a holy man. All I can think is ... it must have been the good Lord himself.") Im Kerker kommt es zu einem Monolog des Großinquisitors um die Freiheit des Willens, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, und die Folgen für das Gewissen der Menschen. Nach Meinung des Inquisitors war der freie Wille ein Fehler, den Jesus gemacht habe, da er für die Menschen nur zu Seelenqualen führe. Die Kirche habe diesen Fehler beseitigt, da sie den Menschen eine Autorität gebe, der sie sich unterordnen können, so dass ihnen diese Bürde abgenommen wird.
In "Talitha Cumi" übernimmt der Raucher die Rolle des Inquisitors: "We appease their conscience. Anyone who can appease a man’s conscience can take his freedom away from him." Duchovny kommentiert diese Szene so: "I told Chris I saw The Cigarette Smoking Man as a Grand Inquisitor figure, because he has seen the truth and he is damning himself in order to save people. In his own twisted way, he’s a very moving figure to me: the man who will go to hell so that other people may live more freely." Episoden wie "One Breath" und "F. Emasculata" scheinen diese Interpretation zu stützen; auch in diesen gibt es Szenen, die nahelegen, dass der Raucher glaubt, im Interesse eines übergeordneten Wohls zu handeln. In "The Blessing Way" und "Paper Clip" hingegen erscheint der Raucher aus reinem Eigeninteresse zu agieren, und es stellt sich die Frage, ob er sich mit diesem übergeordneten Wohl nicht selber belügt. Das scheint auch Jeremiah zu glauben: "All you want is to be part of it, is to be one of the commandants, when the process begins".
Was immer die Motive des Rauchers sind, Jeremiah ist ein Störfaktor in den Plänen des Syndikats, da seine Fähigkeit, Wunder zu vollbringen, den Glauben an die Wissenschaft und die Autorität der Regierung stört. ("Men can never be free, because they're weak, corrupt, worthless and restless. The people believe in authority, they've grown tired of waiting for miracle or mystery. Science is their religion, no greater explanation exists for them. They must never believe any differently if the project is to go forward.") Es ist interessant, dass Carter hier den Raucher - der die Rolle des mit dem Teufel im Bunde stehenden Inquisitors innehat - mit der Wissenschaft argumentieren lässt. Schon früher gab es in Akte X Szenen, in denen der Reinheit des Glaubens eine große Bedeutung beigemessen wurde (bspw. in "Die Hand, die verletzt", besonders aber in "Revelations"). Zwar ist Carter nach eigener Aussage nicht wirklich religiös, der spirituelle Subtext ist aber nicht zu übersehen. (Carter erinnert mich in dieser Hinsicht ein wenig an J. Michael Straczynski, der auch Atheist ist und in dessen Drehbüchern sich regelmäßig solche ähnlichen Botschaften finden.) Ein ums andere Mal suggeriert Akte X, dass es nicht gut ist, wenn Menschen den spirituellen Kompass verlieren und statt dessen nur noch an ihr Land, ihre Regierung oder hier sogar an die Wissenschaft glauben. Die Wissenschaft als Werkzeug des Bösen, auch dieses Bild ist in Akte X nicht neu.
Als Jeremiah den Raucher schließlich an die Toten erinnert, die dem Projekt bereits zum Opfer gefallen sind - er nimmt die Gestalt von Deep Throat und von Bill Mulder an, als er zum Raucher spricht - wird dem Raucher sichtlich ungemütlich. Als Jeremiah ihm dann auch noch prophezeit, er sterbe an Lungenkrebs, ist es mit seiner Contenance endgültig vorbei. Die Aufnahme der leeren Zelle im Anschluss an das Verhör impliziert sehr stark, dass der Raucher Jeremiah im Austausch gegen seine eigene Heilung die Flucht ermöglicht und damit sein eigenes Wohlergehen über das Projekt gestellt hat.
Aber auch in einem anderen Zusammenhang steht der Raucher im Zentrum der Episode. Seine Verbindung zu Mulders Vater ist schon aus früheren Episoden bekannt. In "Talitha Cumi" stellt sich nun heraus, dass auch zwischen Mulders Mutter und ihm eine alte Bekanntschaft besteht. Die Szene mit ihm und Teena Mulder im Sommerhaus der Mulders deutet kaum verhüllt an, dass Teena Mulder und der Raucher eine Affäre hatten: "He was a good water-skier, your husband. Not as good as I was, but then... that could be said about so many things, couldn't it?" (und als ob das noch nicht deutlich genug wäre, später in der Episode zu Mulder: "I've known your mother since before you were born, Fox.") Es drängt sich die Frage auf, wieviel Mrs Mulder von den Vorgängen um das Syndikat und Samanthas Entführung wusste. Sie will ganz offensichtlich nichts mehr mit dem Raucher zu tun haben und auch nicht mit irgendetwas, was damit zusammenhängt: "I've repressed it all." Zwar kann man ihn nicht direkt für den Schlaganfall verantwortlich machen, den sie im Anschluss an den Streit mit ihm erleidet, aber die neuerliche Konfrontation mit der Vergangenheit ist offensichtlich zu viel für sie. Auch hier wird ein wiederkehrendes Thema der Serie wieder aufgenommen, nämlich dass es vor den Sünden der Vergangenheit kein Entkommen gibt. Anders als Teena scheint dem Raucher noch etwas an ihr zu liegen, er besucht sie im Krankenhaus und macht sich offensichtlich Sorgen um sie. Alles in allem gibt der Raucher in dieser Episode ein sehr menschliches und verletzbares Bild ab, das von dem beinahe allmächtigen Strippenzieher, der er zu Beginn der Serie zu sein schien, nicht mehr viel übrig lässt.
Der ganze Streit drehte sich um das außerirdische Stilett, das Bill Mulder im Sommerhaus versteckt hatte, und hinter dem sowohl der Raucher als auch X her ist - der Mulder darauf ansetzt, es zu finden. Als Mulder es schließlich gefunden hat, weigert er sich, es X zu übergeben, und es kommt zur Prügelei zwischen den beiden. In dieser Konfrontation lässt die Episode die Bombe endgültig platzen: "Let me get clear on something here, what we're talking about is colonization. The date is set, isn't it?" (Die Aussage, "the date is set" fiel schon im Verhör des Rauchers, jedoch ohne die Information, um was es geht.) Bisher konnte man nur Vermutungen anstellen, jetzt sind Pläne der Aliens ein für allemal geklärt.
Die Angelegenheit um das außerirdische Stilett ist etwas verwirrend. Es hat den Anschein, als hätte das Syndikat nur dieses eine Exemplar - man muss sich fragen, weswegen das grade Bill Mulder übergeben wurde (hat das etwas mit Samantha zu tun?) und warum er es in diesem eigentlich verlassenen Haus versteckte. Was genau daran so besonders ist - warum es nicht ein normales Skalpell auch tut, oder warum man es nicht einfach nachbauen kann - wird nicht wirklich erklärt.
Die Manöver, das Stilett in Mulders Besitz zu bringen, ließen mich an Excalibur denken, das mythische Schwert des König Arthur: Da Mulder derjenige ist, in dessen Besitz es ist, hat er nun eine Sonderstellung, und kann Jeremiah und den außerirdischen Kopfgeldjäger töten, während der Raucher (und auch X) wieder auf Hilfe der Aliens angewiesen ist.
Aber wenn wir schon beim Thema Arthur sind - überhaupt, und dies ist sicherlich wieder Duchovnys Input zu dieser Episode zu verdanken, geht in "Talitha Cumi" der Joseph Campbell-Handlungsbogen weiter; Mulder erfährt wieder mehr Unliebsames über die Vergangenheit seiner Eltern, und wird vor eine schwierige Wahl gestellt: Entweder mit Jeremiah zu gehen, und seine Suche fortzusetzen, oder diesen zu seiner im Sterben liegenden Mutter zu bringen.
Im Vergleich zu "Anasazi", dem Finale der zweiten Staffel, kommt "Talitha Cumi" um einiges ruhiger und weniger action-gepackt daher. Die Informationen, die die Mythologie voranbringen, finden sich eher in den Dialogen als in großen Ereignissen wieder. Die wesentlichen Neuigkeiten sind, dass die Aliens planen, die Erde zu kolonisieren, und zwar zu einem bereits feststehenden Zeitpunkt, und dass das Syndikat dabei mit ihnen kooperiert. Der Cliffhanger bringt nicht Mulder oder Scully in direkte Gefahr, sondern ihren neuen Verbündeten Jeremiah Smith - der erste Verbündete, bei dem man keine Zweifel haben muss, auf welcher Seite er steht. Die eindrucksvollsten Szenen waren für mich die Verhörszenen in Jeremiahs Zelle und die Begegnung des Rauchers mit Teena Mulder. An schauspielerischen Leistungen ist neben den in diesen Szenen Beteiligten David Duchovny hervorzuheben, der den in dieser Folge wieder sehr mitgenommenen Mulder und seine emotionalen Konflikte großartig darstellte.
Das war nun eine sehr lange Exegese, aber die Episode hatte auch sehr viel zu sagen, wenn auch eher unspektakulär. An "Anasazi" kommt sie für mich nicht heran, trotz der vielen interessanten Themen. Ich gebe knapp sechs außerirdische Stilette dafür.