Folge 20, Staffel 2: "Der Zirkus / Humbug"
(Kopie von SciFi Forum)
Der mysteriöse Tod eines Zirkuskünstlers führt Mulder und Scully zu einem Freak-Wanderzirkus voller bizarrer Teilnehmer. Die Untersuchung, um einen der Zirkusleute zu zitieren, "gestaltet sich schwierig", die Agenten irren zwischen allen möglichen falschen Fährten herum, von der Fidschi-Meerjungfrau bis zum Sheriff selber. Am Ende ist der Gesuchte der siamesische Zwilling des Säufers Lanny, der einen neuen Wirt sucht, weil er nicht zusammen mit seinem Bruder sterben will.
Darin Morgan ist für mich ein Genie, der mit Sicherheit außergewöhnlichste Autor der X-Akten und einer der wichtigsten, auch wenn er in den ursprünglichen neun Staffeln nur vier Folgen verfasst hat. Humbug ist die erste, vielleicht nicht seine allerbeste, aber dennoch eine der besten Episoden der zweiten Staffel. Alle Darin Morgan-Episoden fallen in die Kategorie "Comedy", doch gleiten sie nie in simplen Klamauk und Effekthascherei ab. Sie sind außergewöhnlich durchdacht, bis in die einzelnen Dialogzeilen, und haben immer eine tiefere Botschaft, über die menschliche Gesellschaft und die Serie selbst. In Humbug nutzt er die Zirkusgesellschaft mit ihren Außenseitern für einen Kommentar zum Thema Erwartungen und Vorurteile. Gleich zu Beginn werden zwei Jungs im Swimmingpool von einer hässlichen, monströsen Kreatur überrascht - ein typischer X-Akten-Einstieg, meint man, nur um gleich darüber aufgeklärt zu werden, dass die Kreatur der Vater der Kinder ist, der wieder nur Momente später von einem unbekannten Mörder getötet wird. Schon hier stellt Morgan eine der Prämissen der Show auf den Kopf: Freaks und Mutanten sind in den X-Akten üblicherweise die Antagonisten, die unschuldige Opfer angreifen - nicht Familienväter, die selber ermordet werden. Im besten Fall sind sie bemitleidenswert, weil sie nicht nur Täter, sondern selber Opfer sind. "Imagine going through your whole life looking like this", sagt Scully beim Anblick des Aligator-Manns, ein Satz, der sie später auf die Füße fällt.
Mit Kommentaren über falsche Erwartungen geht es weiter, als Mulder und Scully im Hotel einchecken, mit einer Diskussion über Vorurteile wegen des äußeren Erscheinungsbilds mit dem kleinwüchsigen Hotelmanager. Mulder tappt gleich zweimal in die Falle, als er ihm erst das Hotelmanagement nicht zutraut, und ihn dann verdächtigt, unter Scullys Wohnwagen spannen zu wollen. Scully bemitleidet die Zirkusgesellschaft als Außenseiter und vermutet, sie hätten durch ihre Isolation Psychosen entwickelt. Dies ist eine gradezu grotesk fehlgeleitete Realitätswahrnehmung durch eine Agentin, deren Partner im Kellerbüro sitzt, "the FBI's most unwanted", den keiner ernst nimmt außer anderen Außenseitern, und der sein Geld mit der Jagd nach Außerirdischen verdient. Beide haben kein Leben außer ihrer Arbeit, und wohnen in Häusern ohne Kontakte zu ihren Nachbarn. Mulder und Scully scheinen sehr viel isolierter und von ihren Mitmenschen abgeschotteter als die Mitglieder dieser Zirkusgesellschaft, deren Beziehungsgefüge anscheinend ganz gut funktioniert.
Auch bei der Verfolgung des Sheriffs machen sich beide der Diskriminierung schuldig; das hauptsächliche, wenn nicht gar einzige Verdachtsmoment ist, dass der Sheriff früher selbst ein Freak war. Den beiden ist das sogar klar, sie machen aber dennoch unbeirrbar weiter und sich zum Deppen, als sie ertappt werden und sich mit der Exhumierung einer Kartoffel herausreden müssen. Überhaupt, "the investigation isn't going too well" - Mulder verirrt sich im Labyrinth, Scully zahlt Gebühren für Extra-Beweismaterial in einer Geisterbahn und verfängt sich in einem Spiegelkabinett, später versucht sie sogar, einen Entfesslungskünstler mit Handschellen festzunehmen.
Durch die Episode werden immer wieder Kommentare zum Thema eingestreut, so sagt Lanny über seine aufgegebene Karriere im Zirkus, Mr Nutt habe ihn überzeugt, dass es würdelos sei, sein Geld damit zu verdienen, dass man für eine Deformation angestarrt wird - "So now I carry other people’s luggage". Ist das würdevoller? Ist er glücklicher damit? Als man ihn fragt, ob es weh tut, wenn sich Leonhard von ihm trennt, antwortet er: "It hurts not to be wanted."
Dr Blockheads abschließende Kommentare über das Normale und die Zukunft in einer Welt genetisch optimierter Menschen - "Imagine going through your whole life looking like that!", sagt er zu Scully und deutet auf den in Superman-Pose dastehenden Mulder - reflektieren über den Niedergang seiner kleinen Gesellschaft. Es kommen keine neuen Freaks nach, es ist nicht mehr "politisch korrekt", Außenseiter anzustarren. Wieder fragt man sich, ob der normal aussehende, einem Idealbild nahekommende Mulder tatsächlich normaler oder glücklicher ist.
In einer anderen Inszenierung wäre das alles vielleicht oberlehrerhaft herüberbekommen, aber durch die surreale Handlung, die bizarren Charaktere und den schrägen Humor funktioniert die Episode. Sie kommt vielleicht nicht ganz an Morgans allerbeste Skripts heran, aber ich gebe trotzdem sechs Fidschi-Meerjungfrauen dafür.